Jedes Kästchen warf einen anderen Schatten, obwohl sie alle gleich aussahen. Als die Sonne am Himmel tiefer sank, wuchsen die Schattenfinger aus jedem Kästchen heraus. Aus dem ersten wuchs ein einzelner Schattenfinger, aus dem zweiten deren zwei, aus dem dritten drei. Jetzt wurde ihm klar, warum es das Buch der Gezählten Schatten hieß. Die Kästchen wurden durch die Anzahl ihrer Schatten unterschieden.
Darken Rahl unterbrach Richard jeweils an den entsprechenden Stellen, an denen die Zaubersprüche in den Zauberersand gezeichnet werden mußten. Einige der Zaubersprüche waren mit Namen bezeichnet, die Zedd noch nie gehört hatte. Rahl dagegen schon. Er zeichnete ohne Zögern. Als sich die Dunkelheit senkte, entzündete er einen Ring aus Fackeln um den Sand und zeichnete in ihrem Licht die Zaubersprüche, so wie sie abgerufen wurden. Alle standen schweigend da und verfolgten, wie er vorsichtig in den Sand kratzte. Zedd war beeindruckt von Rahls Geschick und mehr als beunruhigt, als er die Runen der Unterwelt erkannte.
Die geometrischen Muster waren komplex. Zedd wußte, daß sie fehlerlos und in der richtigen Reihenfolge gezeichnet werden mußten, jeder Strich zur rechten Zeit, in der richtigen Abfolge. Ein Fehler konnte nicht gelöscht und mit einem zweiten Versuch behoben werden. Jeder Fehler bedeutete den Tod. Zedd hatte Zauberer gekannt, die aus Angst, einen fatalen Fehler zu machen, Jahre auf das Studium eines Zaubers verwandt hatten, bevor sie es wagten, ihn in den Zauberersand zu zeichnen. Rahl schien nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben. Mit sicherer Hand führte er präzise Bewegungen aus. Zedd hatte noch nie einen Zauberer mit solcher Begabung gesehen. Wenigstens, so dachte er bitter, würden sie vom Allerbesten umgebracht werden. Er konnte nicht anders, er mußte das meisterhafte Geschick bewundern. Ein solches Höchstmaß an Fertigkeit hatte er noch nie gesehen.
All diese Bemühungen dienten lediglich dazu festzustellen, welches Kästchen Rahl wählen mußte. Im Buch hieß es, er könne eines nach dem anderen öffnen. Aus anderen Anleitungsbüchern wußte Zedd, all dieser Umstand stellte nur eine Vorsichtsmaßnahme dagegen dar, daß die Magie leichtfertig mißbraucht wurde. Niemand sollte einfach beschließen können, sich zum Herrscher der Welt aufzuschwingen, und in einem Buch der Magie nachlesen können, wie das funktionierte. Darken Rahl hatte sich fast sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet. Vermutlich hatte sein Vater schon mit der Unterweisung begonnen, als er noch sehr jung war. Hätte doch bloß das Zaubererfeuer nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn getötet. Einen Augenblick lang hing Zedd diesem Gedanken nach, dann verwarf er ihn.
Bei Tagesanbruch, als alle Zaubersprüche gezeichnet waren, wurden die Kästchen darauf gestellt, jedes einzelne, unterschieden durch die Anzahl der Schatten, die es warf, auf eine eigene Zeichnung. Zaubersprüche wurden gesprochen. Als die Sonnenstrahlen des zweiten Wintertages den Stein beleuchteten, wurden die Kästchen wieder auf den Altar zurückgestellt. Zu seiner Überraschung stellte Zedd fest, daß die Kästchen jetzt eine andere Zahl an Schatten warfen als am Tag zuvor — eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Die Kästchen wurden wie angegeben aufgestellt, dasjenige, welches nur einen einzigen Schatten warf, links, jenes, das zwei warf, in der Mitte und das mit den drei Schatten ganz nach rechts.
Darken starrte auf die schwarzen Kästchen. »Fahre fort.«
Richard sprach ohne Zögern weiter. »Ist dies geschehen, so ist die Ordnung bereit, beherrscht zu werden. Wo ein Schatten nicht genügt zum Gewinn der Macht und zum Erhalt des Lebens des Spielers und drei mehr sind, als alles Leben dulden kann, erzielt man Ausgewogenheit durch Öffnen eines Kästchens mit zwei Schatten: einen für dich selbst, den anderen für jene Welt, die dir kraft der Macht der Ordnung gehören soll. Eine Welt unter einer Herrschaft, das meint, das Kästchen mit zwei Schatten. Öffne es, und du wirst deinen gerechten Lohn erhalten.«
Darken Rahl wandte sich langsam Richard zu. »Fahre fort.«
Richard machte ein verständnisloses Gesicht. »Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Das ist das Ende.«
»Das ist vollkommen unmöglich.«
»Doch, Meister Rahl. Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Das ist das Ende, die letzten Worte.«
Rahl packte Richard an der Kehle. »Hast du auch alles auswendig gelernt? Das ganze Buch?«
»Ja, Meister Rahl.«
Rahl wurde rot vor Wut. »Ausgeschlossen! Das ist niemals das richtige Kästchen! Das Kästchen mit zwei Schatten ist dasjenige, das mich töten wird! Ich habe dir doch gesagt, daß ich soviel schon weiß! Ich weiß, welches mich umbringen wird!«
»Ich habe Euch alles wahrheitsgemäß vorgetragen. Jedes einzelne Wort.«
Darken Rahl ließ seine Kehle los. »Ich glaube dir nicht.« Er sah zu Michael hinüber. »Schneide ihr die Kehle durch.« Richard ließ sich mit einem Aufschrei auf die Knie fallen. »Bitte! Ihr habt mir Euer Wort gegeben! Ihr habt gesagt, wenn ich es Euch erzähle, würdet Ihr ihr nichts tun! Bitte! Ich habe Euch die Wahrheit gesagt!«
Rahl hielt Michael mit einer Handbewegung zurück, ließ Richard jedoch nicht aus den Augen. »Ich glaube dir nicht. Ich werde sie aufschlitzen, es sei denn, du sagst mir die Wahrheit, und zwar sofort. Ich werde deine Herrin töten.«
»Nein!« schrie Richard. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt! Etwas anderes kann ich Euch nicht sagen, es wäre gelogen!«
»Deine letzte Chance, Richard. Sag mir die Wahrheit, oder sie stirbt.«
»Ich kann Euch nichts anderes sagen«, jammerte Richard. »Alles andere wäre gelogen. Ich habe Euch jedes Wort wahrheitsgemäß vorgetragen.«
Zedd erhob sich. Er betrachtete das Messer an Kahlans Kehle, ihre weit aufgerissenen, grünen Augen, den zögernden Darken Rahl. Offenbar hatte Rahl einen Teil seines Wissens aus einer anderen Quelle als dem Buch der Gezählten Schatten, und dieses Wissen stimmte nicht mit dem aus dem Buch überein. Das war nichts Ungewöhnliches, sicher wußte Darken Rahl das auch. Bei Unstimmigkeiten hatte die Aussage aus dem Anleitungsbuch für diesen speziellen Zauber immer Vorrang. Sich anders zu verhalten, war stets ein tödlicher Fehler, es war eine Sicherung zum Schutz des Zaubers. Gegen jede Aussicht hoffte Zedd, Rahl wäre so überheblich, sich gegen das Buch zu wenden.
Das Lächeln kehrte auf Darken Rahls Gesicht zurück. Er befeuchtete seine Fingerspitzen, fuhr sich damit über die Augenbrauen. »Also schön, Richard. Ich mußte nur sichergehen, daß du die Wahrheit sagst.«
»Das tue ich. Ich schwöre es bei Herrin Kahlans Leben. Jedes Wort, das ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit.«
Rahl nickte. Er gab Michael einen Wink mit der Hand. Michael senkte das Messer. Kahlan schloß die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Rahl wandte sich mit einem tiefen Seufzer den Kästchen zu.
»Endlich«, flüsterte er. »Die Magie der Ordnung gehört mir.«
Zedd konnte es nicht sehen, aber er wußte, daß Darken Rahl den Deckel des mittleren Kästchens, das mit den zwei Schatten, öffnete. Er sah es an dem Licht, das daraus hervorströmte. Goldenes Licht stieg in die Höhe und legte sich wie eine Zentnerlast über Darken Rahl und tauchte ihn in einen goldenen Glanz. Er drehte sich lächelnd um. Das Licht um ihn folgte seinen Bewegungen. Er ging leicht in die Höhe, gerade genug, um seine Füße zu entlasten, und schwebte mit ausgestreckten Armen zur Mitte des Zauberersandes, wo das Licht ihn langsam zu umkreisen begann. Er drehte sich mit dem Gesicht zu Richard.
»Ich danke dir, mein Sohn, daß du zurückgekommen bist und Vater Rahl geholfen hast. Du wirst für deine Hilfe belohnt werden, wie ich es versprochen habe. Du hast mir gegeben, was mir gehört. Das spüre ich. Es ist phantastisch. Ich spüre die Kraft.«