Richard stand teilnahmslos da und sah zu. Zedd sank wieder zu Boden. Was hatte Richard nur getan? Wie konnte er nur? Wie konnte er Rahl die Magie der Ordnung überlassen? Und die Herrschaft über die Welt? Er war von einem Konfessor berührt worden, das mußte es sein, er hatte sich nicht mehr in der Hand. Es war vorbei. Zedd vergab ihm. Hätte er die Kraft dazu gehabt, Zedd hätte ein Lebensfeuer entfacht und sein Leben dafür geopfert. Doch hier besaß er keine Macht, nicht im Angesicht von Meister Rahl. Er fühlte sich sehr müde, sehr alt. Er würde keine Gelegenheit erhalten, viel älter zu werden. Dafür würde Darken Rahl sorgen. Doch er trauerte nicht um sich selbst — sondern um all die anderen.
In goldenes Licht getaucht erhob sich Darken Rahl einige Fuß vom Erdboden über dem Zauberersand. Er hatte ein selbstgefälliges Grinsen auf dem Gesicht, seine blauen Augen funkelten. Verzückt rollte er den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und ließ sein blondes Haar hinunterhängen. Funkelndes Licht umkreiste ihn.
Der weiße Sand färbte sich golden und wurde immer dunkler, bis hin zu einem verbrannten Braun. Das Licht um Rahl dunkelte nach zu Bernstein. Dann senkte er den Kopf, schlug die Augen auf, und sein Lächeln erstarb.
Der Zauberersand war schwarz verkohlt. Der Erdboden bebte.
Richards Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er ging und holte sich das Schwert der Wahrheit zurück, und der Zorn der Magie des Schwertes durchströmte ihn. Zedd sprang auf. Das Licht rings um Darken Rahl wurde zu einem häßlichen Braun. Er riß seine blauen Augen auf.
Aus dem Erdboden entwich ein klagendes Grollen. Im schwarzen Sand unter Rahls Füßen tat sich ein Spalt auf. Violettes Licht schoß empor, hüllte ihn ein. Schreiend wand er sich darin.
Richards Brust hob sich. Er stand wie gebannt da und sah zu.
Zedds unsichtbares Verlies zersprang. Plötzlich hatte auch Chases Hand ihre Reise zu seinem Schwert beendet und riß es heraus, als er auf Kahlan zustürzte. Die beiden Wachen ließen ihre Arme los und stellten sich ihm auf halbem Weg. Michael wurde blaß. Wie gelähmt mußte er mit ansehen, wie Chase einen der Männer niederstreckte. Kahlan bohrte Michael den Ellenbogen in den Unterleib, packte das Messer und drehte es ihm aus der Hand. Unbewaffnet sah Michael sich mit wirrem Blick und ruckartigen Bewegungen seines Kopfes um, dann stürzte er einen Pfad zwischen den Bäumen entlang. Chase und der zweite Wachmann stürzten zu Boden und wälzten sich stöhnend und jeder mit tödlicher Absicht herum. Die Wache stieß einen Schrei aus. Chase kam wieder auf die Beine. Die Wache nicht. Chase warf einen kurzen Blick auf Darken Rahl, dann stürzte er denselben Weg entlang, den auch Michael genommen hatte. Aus den Augenwinkeln sah Zedd Kahlans Kleid aufblitzen. Sie verschwand in entgegengesetzter Richtung.
Zedd stand genauso da wie Richard. Wie gebannt hingen ihre Blicke an Darken Rahl, der sich abmühte, gefangen im Zugriff der Magie der Ordnung. Violettes Licht und dunkle Schatten hielten ihn fest in der Luft über dem schwarzen Loch.
»Richard!« kreischte Rahl. »Was hast du getan!«
Der Sucher trat näher an den Kreis aus schwarzem Sand. »Nur das, was Ihr von mir verlangt habt, Meister Rahl«, antwortete er unschuldig. »Ich habe Euch erzählt, was Ihr hören wolltet.«
»Aber es war die Wahrheit! Du hast die Worte wahrheitsgemäß wiedergegeben!«
Richard nickte. »Ja, das habe ich. Ich habe nur ein paar ausgelassen. Den größten Teil des letzten Abschnitts. Sei gewarnt. Die Wirkung der Kästchen ist fließend. Sie verändert sich mit der Absicht. Um Herrscher von allen zu werden, auf daß du ihnen helfen kannst, schiebe eines der Kästchen nach rechts. Um Herrscher von allen zu werden, auf daß sie deinem Geheiß folgen, schiebe eines der Kästchen nach links. Und nun herrsche, wie es dir beliebt. Dein Wissen war richtig. Das Kästchen mit den zwei Schatten war es, das dich töten würde.«
»Aber du mußtest genau das tun, was ich sage! Du warst von der Kraft eines Konfessors berührt worden!«
Richard mußte grinsen. »Tatsächlich? Das erste Gesetz der Magie. Es ist das erste Gesetz, weil es das wichtigste ist. Ihr hättet Euch besser dagegen schützen sollen. Das ist der Preis der Überheblichkeit. Ich habe meine Verletzbarkeit angenommen, Ihr dagegen nicht. Die Wahl, vor die Ihr mich gestellt habt, hat mir nicht gefallen. Nach Euren Regeln konnte ich nicht gewinnen, also habe ich neue gemacht. Im Buch steht, daß die Wahrheit durch Hinzuziehen eines Konfessors bestätigt werden muß. Ihr habt bloß geglaubt, das getan zu haben. Das erste Gesetz der Magie. Ihr habt es geglaubt, weil Ihr es habt glauben wollen. Ich habe Euch besiegt.«
»Das darf nicht sein! Unmöglich! Woher hättest du wissen sollen, wie das geht?«
»Ihr habt es mir selbst beigebracht: nichts hat nur eine Dimension, auch Magie nicht. Betrachte das Ganze, habt Ihr gesagt, nichts, was existiert, hat nur eine Seite.« Richard schüttelte langsam den Kopf. »Ihr hättet mir nie etwas beibringen sollen, was ich nicht wissen durfte. Wenn Ihr mir etwas beibringt, steht es mir auch frei, davon Gebrauch zu machen. Danke, Vater Rahl, daß Ihr mir das Wichtigste beigebracht habt, das ich je wissen werde – wie ich Kahlan lieben kann.«
Darken Rahls Gesicht war schmerzverzerrt. »Wo steckt Kahlan?«
Zedd zeigte mit seinem langen Finger. »Ich habe sie in diese Richtung fortlaufen sehen.«
Richard ließ das Schwert in die Scheide zurückgleiten und betrachtete die von Schatten und Licht gehaltene Gestalt. »Lebt wohl, Vater Rahl. Ich denke, Ihr werdet auch sterben, ohne daß ich dabei zuschaue.«
»Richard!« kreischte Rahl dem aufbrechenden Sucher hinterher. »Richard!«
Zedd blieb mit Darken Rahl allein. Er sah, wie durchsichtige Finger aus Rauch sich um die weißen Gewänder wanden und ihm die Arme an den Körper preßten. Zedd trat näher, und die blauen Augen schwenkten zu dem alten Zauberer herüber.
»Zeddicus Zu’l Zorander, bis hierhin hast du gewonnen, aber vielleicht noch nicht alles.«
»Überheblich bis zum Ende?«
Rahl grinste. »Sag mir, wer er ist.«
Zedd zuckte mit den Schultern. »Der Sucher.«
Rahl grölte vor Lachen, zappelte dabei schmerzgequält. Seine blauen Augen fanden Zedd ein weiteres Mal. »Er ist dein Sohn, hab’ ich recht? Wenigstens bin ich von Zaubererblut geschlagen worden. Du bist sein Vater.«
Zedd schüttelte langsam den Kopf, ein nachdenkliches Lächeln kam auf seine Lippen. »Er ist mein Enkel.«
»Du lügst! Warum hast du ein Netz um ihn gelegt und die Identität seines Vaters verborgen, wenn du es nicht selbst bist!«
»Ich habe ein Netz um ihn gelegt, weil ich nicht wollte, daß er erfährt, wer dieser blauäugige Bastard ist, der seine Mutter vergewaltigt und ihm so das Leben geschenkt hat.«
Darken Rahl riß die Augen auf. »Deine Tochter wurde umgebracht. Das hat mir mein Vater erzählt.«
»Ein kleiner Trick, damit sie sicher war.« Zedds Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Obwohl du nicht wußtest, wer sie war, hast du sie geschändet. Ohne es zu wollen, hast du ihr Glück gebracht. Richard.«
»Ich bin sein Vater?« flüsterte Rahl.
»Ich wußte, daß ich dir nichts anhaben konnte, als du meine Tochter vergewaltigt hattest, daher war mein erster Gedanke, sie zu trösten, sie zu beschützen. Deswegen habe ich sie nach Westland gebracht. Sie lernte einen jungen Mann kennen, einen Witwer mit einem kleinen Sohn. George Cypher war ein rechtschaffener, gütiger Mann, und ich war stolz, ihn als Mann meiner Tochter zu bekommen. George liebte Richard wie seinen eigenen Sohn, aber er kannte die Wahrheit. Nur nicht über mich. Er wußte nicht, wer ich war, das blieb verborgen unter dem Netz. Ich hätte Richard für die Verbrechen seines Vaters hassen können, entschied mich aber statt dessen, ihn um seiner selbst willen zu lieben. Er hat sich zu einem prächtigen Mann entwickelt, findest du nicht? Du bist von eben dem Erben besiegt worden, den du dir immer gewünscht hast. Einem Erben, der mit der Gabe geboren wurde. Das ist sehr selten. Richard ist der wahre Sucher. Vom Blut der Rahls hat er die Kraft des Zorns, die Fähigkeit zur Gewalt. Aber sie wird ausgeglichen durch das Blut der Zorander, der Fähigkeit zu lieben, zu verstehen, zu vergeben.«