»Na, na, mein kleiner Schatz. Wird ja alles wieder gut. Armes, kleines Ding.« Rachel hörte, wie sie die Schnauze des Köters küßte, ständig tat sie das. Schließlich fing auch sie an zu niesen. »Wie sagtest du gerade, Giller? Was hat ein Zauberer in den Ställen zu suchen?«
»Wie ich gerade sagte, Majestät.« Auch Gillers Stimme konnte ganz schön gemein klingen, doch der der Königin gegenüber fand Rachel sie fast komisch. »Angenommen, Ihr wärt ein Mörder und wolltet Euch in das Schloß einer Königin schleichen, um ihr einen dicken, fetten Pfeil in den Wanst zu jagen, was meint Ihr, würdet Ihr einfach am hellichten Tag durch das Haupttor spaziert kommen? Oder würdet Ihr mit Eurem Langbogen eher auf einem Karren fahren, versteckt vielleicht unter einem Heuhaufen oder ein paar Säcken? Um Euch dann nachts aus den Ställen zu schleichen?«
»Nun … ich … na ja, meinst du es gibt … hast du irgendwas gefunden?«
»Aber da Ihr nicht wollt, daß ich in den Ställen herumschleiche, werde ich das wohl auch von meiner Liste streichen! Wenn Ihr nichts dagegen habt, möchte ich dann aber von jetzt an in der Öffentlichkeit in deutlicher Entfernung von Euch stehen. Ich möchte nicht im Weg sein, wenn irgendwelche Untertanen aus der Ferne ihre Liebe zur Königin bezeugen wollen.«
»Zauberer Giller« — jetzt wurde ihre Stimme richtig nett, ganz so, als spräche sie zu ihrem Hund — »bitte verzeih. Ich war in letzter Zeit ein wenig gereizt, schließlich trifft Vater Rahl schon bald ein. Ich möchte nur, daß alles bestens läuft, dann werden wir alles erreichen, was wir wollen. Ich weiß, dir liegt nur mein Wohlergehen am Herzen. Bitte laß dich dabei nicht stören und vergiß die vorübergehende Torheit einer Dame.«
»Wie Ihr wünscht, Majestät.« Er verbeugte sich.
Die Königin eilte niesend weiter, den Flur entlang. Doch dann hörte Rachel, wie ihr trampelnder Schritt und kurz darauf das Klirren der Rüstungen abrupt verstummte.
»Übrigens, Zauberer Giller«, rief sie zurück. »Habe ich dir das schon gesagt? Ein Bote war hier. Vater Rahl wird früher kommen als erwartet. Viel früher. Und zwar schon morgen. Natürlich erwartet er das Kästchen, um das Bündnis zu besiegeln. Bitte kümmere dich darum.«
Gillers Bein zuckte so stark, daß er Rachel fast umgestoßen hätte. »Selbstverständlich, Majestät.« Er verbeugte sich ein zweites Mal.
Giller wartete, bis die Königin verschwunden war, dann packte er Rachel mit seinen großen Händen und klemmte sie sich unter den Arm. Seine Wangen waren nicht rot wie sonst, sondern blaß. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, und sie wußte sofort, daß sie still sein mußte. Wieder sah er sich verstohlen in dem Flur um.
»Morgen!« murmelte er vor sich hin. »Verflucht seien die Seelen. Ich bin noch nicht soweit.«
»Was ist denn, Giller?«
»Rachel«, flüsterte er und schob ihr die dicke Hakennase ganz dicht vors Gesicht. »Befindet sich die Prinzessin im Augenblick in ihrem Zimmer?«
»Nein«, antwortete Rachel flüsternd. »Sie ist ausgegangen, um einen Stoff für ein neues Kleid auszusuchen. Für Vater Rahls Besuch.«
»Weißt du, wo die Prinzessin ihren Schlüssel für die Juwelenkammer aufbewahrt?«
»Ja. Wenn sie ihn nicht bei sich hat, bewahrt sie ihn im Schreibtisch auf. In der Schublade an der Fensterseite.«
Er machte sich auf den Weg zu Prinzessin Violets Zimmer. Auf den Teppichen waren seine Schritte so leise, daß Rachel sie nicht hören konnte. »Wir ändern den Plan, Kind. Wirst du tapfer sein? Für mich und für Sara?«
Sie nickte. Dann schlang sie ihm die Arme um den Hals, um sich festzuhalten. Er rannte fast. Er lief an sämtlichen Holztüren mit den Spitzbögen vorbei, bis er zu der größten kam, einer Doppeltür hinten in einem kleinen Gang, eingefaßt von Steinschnitzereien. Das Zimmer der Prinzessin. Dort drückte er Rachel fest an sich.
»Also«, flüsterte er. »Du gehst hinein und holst den Schlüssel. Ich bleibe draußen und passe auf.«
Er setzte sie ab. »Beeil dich, los«, sagte er und schloß die Tür hinter ihr.
Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen das Sonnenlicht herein. Niemand war im Zimmer. Keine der Dienerinnen machte sauber. Das Feuer war heruntergebrannt. Die Diener hatten noch kein neues für heute abend angezündet. Das riesige Himmelbett der Prinzessin war bereits gemacht. Rachel mochte den Bettbezug mit all den hübschen Blumen. Sie hatte sich immer gefragt, wozu die Prinzessin so ein großes Bett brauchte. Es reichte für zehn. Bei ihr zu Hause schliefen sechs Mädchen zusammen in einem Bett, das halb so groß war wie dieses, und das Bettzeug war weiß. Wie sich das Bett der Prinzessin wohl anfühlte? Nie hatte sie auch nur darauf gesessen.
Giller hatte gesagt, sie sollte sich beeilen, also durchquerte sie das Zimmer, lief über das Fell zu der polierten Kommode mit dem hübschen Astlochmuster im Holz. Sie steckte die Finger durch den goldenen Griff und zog die Lade auf. Es machte sie nervös, obwohl sie es früher schon getan hatte, wenn die Prinzessin sie nach dem Schlüssel geschickt hatte. Aber noch nie hatte sie es ohne Anordnung der Prinzessin getan. Der große Schlüssel für die Juwelenkammer lag in dem roten Samtetui, gleich neben dem kleinen Schlüssel für ihren Schlafkasten. Sie steckte den Schlüssel in die Tasche, schob die Lade zu und vergewisserte sich, ob sie ganz geschlossen war.
Sie wollte gerade zur Tür, als ihr Blick in die Ecke fiel, wo ihr Schlafkasten stand. Giller wollte, daß sie sich beeilte, trotzdem lief sie zu dem Kasten. Sie mußte einfach nachsehen. Sie kletterte hinein in das dunkle Innere und krabbelte in die hinterste Ecke, wo zusammengeschoben die Decke lag. Vorsichtig zog sie die Decke zurück.
Sara schaute sie an. Die Puppe war genau da, wo sie sie liegengelassen hatte.
»Ich muß schnell wieder weg«, flüsterte sie hastig. »Ich komme nachher wieder.«
Rachel küßte die Puppe auf den Kopf, deckte sie wieder mit der Decke zu und versteckte sie in der Ecke, damit niemand sie fand. Es konnte Ärger bedeuten, Sara ins Schloß zu bringen, aber der Gedanke, sie in der Launenfichte allein zu lassen, war unerträglich. Sie wußte, wie einsam und unheimlich es in der Launenfichte werden konnte.
Als sie fertig war, rannte sie zur Tür, zog sie einen Spaltbreit auf und blickte in Gillers Gesicht. Er nickte ihr zu und gab ihr ein Zeichen mit der Hand. Die Luft war rein.
»Der Schlüssel?«
Sie zog ihn aus der Tasche, wo sie ihren magischen Feuerstab aufbewahrte, und zeigte ihn ihm. Er lächelte und nannte sie ein gutes Mädchen. So hatte sie noch nie jemand genannt, jedenfalls schon lange nicht mehr. Er hob sie hoch und eilte durch den Flur zur engen Dienstbotentreppe. Selbst auf dem Steinboden konnte sie seine Schritte kaum hören. Unten angekommen, setzte er sie ab.
»Rachel«, sagte er und ging neben ihr in die Hocke, »hör gut zu, es ist sehr wichtig. Das ist kein Spiel. Wir müssen aus dem Schloß fliehen, sonst schlägt man uns beiden die Köpfe ab, genau wie Sara dir erzählt hat. Aber wir müssen schlau sein, sonst werden wir geschnappt. Wenn wir zu schnell weglaufen, ohne zuerst die richtigen Dinge zu tun, wird man uns auf die Schliche kommen. Und wenn wir zu langsam sind, nun ja, wir sollten einfach nicht zu langsam sein.«
Sie war den Tränen nahe. »Giller, ich habe Angst davor, daß man mir den Kopf abschlägt. Alle sagen, es tut furchtbar weh.«
Giller drückte sie fest an sich. »Ich weiß, Kind. Ich habe auch Angst.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern, richtete sie auf und sah ihr in die Augen. »Aber wenn du mir vertraust und genau tust, was ich dir sage und mutig genug bist, können wir von hier fliehen. Dann gehen wir irgendwohin, wo niemand einem den Kopf abschlägt oder einen in einen Kasten sperrt und wo du deine Puppe haben darfst und sie dir niemand wegnimmt. Einverstanden?«
Die Tränen verschwanden. »Das wäre wunderschön, Giller.«