Als sie die Gars hinter sich gelassen hatten, gingen sie weiter die Straße nach Tamarang entlang, zur Grenze des Landes der Wilden, dem Land, das von Königin Milena regiert wurde. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie an eine Gabelung kamen. Richard nahm an, sie würden rechts gehen, doch Kahlan meinte, Tamarang läge im Osten. Gars und Feuerquelle waren links von ihnen gewesen. Kahlan bog auf die linke Straße ein.
»Was machst du?« Seitdem sie Agaden verlassen hatten, mußte er sie wie ein Habicht im Auge behalten. Er konnte ihr nicht mehr trauen. Sie wollte sterben, und das würde sie auch schaffen, wenn er nicht gut aufpaßte.
Sie drehte sich um und sah ihn mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck an, den sie schon seit Tagen beibehielt. »Das ist eine sogenannte verkehrte Gabelung. Weiter oben, wo man wegen der Steigung und dem dichten Wald nicht viel erkennen kann, kreuzen sich die beiden Straßen und wechseln die Richtungen. Wegen der dichtstehenden Bäume ist der Stand der Sonne und die Richtung, in der man geht, nur schwer auszumachen. Wenn wir hier die rechte Gabelung nehmen, landen wir bei den Gars. Diese hier, die linke, führt nach Tamarang.«
Er machte ein ungläubiges Gesicht. »Wieso sollte sich jemand die Mühe machen, eine solche Straße zu bauen?«
»Das ist nur ein kleiner Trick, mit dem die alten Herrscher Tamarangs die Eindringlinge aus der Wildnis verwirrt haben. Dadurch gewannen die Verteidiger manchmal Zeit, um sich, wenn nötig, zurückzuziehen und zu sammeln und um dann von neuem gegen die Eindringlinge vorzugehen.«
Einen Augenblick lang betrachtete er ihr Gesicht und versuchte abzuschätzen, ob sie die Wahrheit sagte. Es brachte ihn fast um den Verstand, wenn er nicht wußte, ob Kahlan ihm die Wahrheit sagte.
»Du bist meine Führerin«, sagte er endlich. »Du bestimmst den Weg.«
Sie drehte sich wortlos um und ging weiter. Richard wußte nicht, wie lange er das noch ertragen konnte. Sie sprach nur wenn nötig, hörte nicht zu, wenn er sich unterhalten wollte, und zog sich jedesmal zurück, wenn er ihr zu nahe kam. Sie tat, als wäre seine Berührung Gift, dabei hatte sie doch eher Angst, sie könnte ihn berühren. Er hatte gehofft, ihre Reaktion auf die Entdeckung der Gars wäre ein Signal für eine Veränderung gewesen, doch er hatte sich geirrt. Schnell hatte sie sich wieder in sich selbst zurückgezogen.
Sie war wie eine Gefangene auf einem Zwangsmarsch, und er war gegen seinen Willen ihr Aufpasser. Er behielt ihr Messer im Gürtel. Er wußte, was passieren würde, wenn er es ihr zurückgab. Mit jedem Schritt entfernte sie sich mehr von ihm. Er war drauf und dran, sie zu verlieren, hatte aber nicht die geringste Idee, was er dagegen tun könnte.
Wenn sie nachts ihre Wachen übernehmen sollte, damit er etwas schlafen konnte, mußte er sie an Händen und Füßen fesseln, damit sie sich nicht hinter seinem Rücken umbrachte. Sie ließ es widerstandslos über sich ergehen. Er litt große Qualen. Selbst dann mußte er noch beim Schlafen ein Auge offenhalten. Er schlief zu ihren Füßen, damit sie ihn wecken konnte, falls sie etwas sah oder hörte. Die Anspannung hatte ihn todmüde gemacht.
Wären sie doch bloß nie zu Shota gegangen! Die Vorstellung, Zedd könnte sich gegen ihn stellen, war undenkbar, der Gedanke, Kahlan könnte es tun, unerträglich.
Richard packte etwas zu essen aus. Er versuchte, fröhlich zu klingen, in der Hoffnung, sie aufzuheitern. »Hier, möchtest du etwas von dem Trokkenfisch?« Er grinste. »Schmeckt wirklich scheußlich.«
Nicht einmal sein Scherz brachte sie zum Lachen. »Nein danke. Ich bin nicht hungrig.«
Richard machte gute Miene zum bösen Spiel und gab sich alle Mühe, seinen Ärger nicht durchklingen zu lassen. »Kahlan, du hast seit Tagen kaum etwas gegessen. Du mußt etwas zu dir nehmen.«
»Ich habe gesagt, ich will nichts.«
»Komm schon, für mich, ja?« versuchte er sie zu überreden.
»Was wirst du als nächstes tun? Willst du mich festhalten und es mir in den Mund stopfen?«
Ihre Gelassenheit machte ihn noch wütender, doch er verbarg das, so gut es ging, hinter seinem Ton. »Wenn es sein muß.«
Sie wirbelte herum. Ihre Brust hob und senkte sich. »Richard! Bitte! Laß mich einfach gehen. Ich will nicht bei dir sein! Laß mich einfach gehen!« Zum ersten Mal seit Agaden hatte sie ihre Gefühle gezeigt.
Jetzt war es an ihm, seine Gefühle zu verbergen. »Nein.«
Sie funkelte ihn mit Feuer in ihren grünen Augen an. »Du kannst unmöglich jeden Augenblick auf mich aufpassen. Früher oder später…«
»Jede einzelne Minute … wenn es sein muß.«
Sie standen sich gegenüber und sahen sich wütend an. Dann war alles Gefühl aus ihrem Gesicht gewichen. Sie drehte sich um und ging weiter.
Sie waren nur wenige Minuten stehengeblieben, doch für das Monster, das ihnen folgte, hatte es gereicht, einen weiteren Fehler zu machen. Einen Augenblick lang hatte seine Wachsamkeit nachgelassen und es war zu nahe gekommen; nahe genug, daß Richard seine wilden, gelben Augen erkennen konnte, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Seit dem zweiten Tag nach Agaden wurden sie verfolgt. Die Jahre allein im Wald hatten ihn aufmerksam dafür gemacht, ob er verfolgt oder ob ihm nachspioniert wurde. Dieses Spiel hatten er und die anderen Waldführer gelegentlich in den Wäldern Kernlands gespielt, um herauszufinden, wie weit sie sich gegenseitig folgen konnten, ohne entdeckt zu werden. Was immer ihnen jetzt folgte, es beherrschte das Spiel gut. Aber nicht so gut wie Richard. Dreimal hatte er bislang die gelben Augen gesehen, die sonst wohl kaum einer entdeckt hätte.
Samuel konnte es nicht sein. Das Gelb war anders, dunkler, die Augen standen dichter beieinander, und es war gerissener. Ein Herzhund konnte es ebenfalls nicht sein, der hätte längst angegriffen. Was immer es war, es beobachtete sie nur.
Richard war sicher, Kahlan hatte es nicht gesehen. Sie war zu tief in ihren eigenen trüben Gedanken versunken. Früher oder später würde sich das Wesen zu erkennen geben. Richard war vorbereitet. Aber im Augenblick hatte er mit Kahlan alle Hände voll zu tun, noch mehr Ärger konnte er nicht gebrauchen. Er drehte sich also nicht um, zeigte nicht, daß er Verdacht geschöpft hatte, ging nicht im Kreis, wie er und die anderen Waldführer das Manöver genannt hatten, sondern behielt die Augen im Blick, wann immer sie sich zeigten, ohne einen direkten Kontakt zu erzwingen. Er war ziemlich sicher, ihr Verfolger ahnte nicht, daß er Bescheid wußte. Im Augenblick wollte er es auch dabei belassen.
Kahlan ging mit hängenden Schultern voran, und er überlegte, was er in ein paar Tagen tun sollte, wenn sie Tamarang erreicht hatten. Ob es ihm gefiel oder nicht, sie war drauf und dran, diesen zähen Kampf zu gewinnen, ganz einfach deshalb, weil es so nicht weitergehen konnte. Sie konnte immer wieder scheitern, brauchte nur ein einziges Mal Erfolg zu haben. Er dagegen mußte jedesmal gewinnen. Ein winziger Fehler, und sie konnte sich das Leben nehmen. Er hatte keine Chance. Er würde verlieren. Was konnte er dagegen machen?
Rachel saß auf dem kleinen Hocker vor dem hohen, mit Samt bezogenen, mit Knöpfen und vergoldeten Schnitzereien verzierten Sessel, wartete und schlug die Knie zusammen. Beeil dich, Giller, sagte sie sich immer wieder, beeil dich, bevor die Prinzessin kommt. Sie hob den Kopf und betrachtete das Kästchen der Königin. Hoffentlich ließ Prinzessin Violet diesmal die Finger von dem Kästchen, wenn sie kam, um den Schmuck anzuprobieren. Rachel konnte es nicht ausstehen, wenn sie das tat, es machte ihr angst.
Die Tür öffnete sich einen Spaltweit. Giller schob seinen Kopf herein.
»Beeil dich, Giller«, zischte sie.
Er trat ganz durch die Tür. Dann steckte er den Kopf wieder nach draußen, blickte den Flur entlang nach beiden Seiten und schloß die Tür. Er sah sie an.
»Hast du das Brot?«
Sie nickte. »Hier ist es.« Sie zog das Bündel unter ihrem Stuhl hervor und legte es auf den Schemel. »Ich hab’ das Brot in ein Handtuch gewikkelt, damit es niemand sieht.«