»Ja«, weinte sie. »Aber kannst du es nicht aus dem Schloß bringen?«
»Wenn ich es könnte, ich schwöre dir, Rachel, würde ich es tun. Aber ich kann nicht. Es gibt Leute, die mich beobachten und nicht wollen, daß ich das Schloß verlasse. Wenn sie mich mit dem Kästchen erwischen, bekommt es Vater Rahl, und das dürfen wir doch nicht zulassen, oder?«
»Nein…« Dann bekam sie es richtig mit der Angst. »Giller, du hast gesagt, du willst mit mir fortlaufen. Du hast es versprochen.«
»Und glaub mir, ich habe vor, mein Versprechen zu halten. Aber es kann ein paar Tage dauern, bis ich mich aus Tamarang fortschleichen kann. Es wäre sehr gefährlich, wenn das Kästchen noch einen Tag länger hierbliebe, und ich kann es nicht selber fortschaffen. Bringe es an deinen geheimen Platz, in die Launenfichte. Dort wartest du auf mich, bis ich dich holen kommen kann.«
»Ich kann’s ja mal versuchen. Wenn es so wichtig ist.«
Giller rückte näher und setzte sich auf den Schemel. Er packte sie an der Taille und hob sie auf sein Knie.
»Hör zu, Rachel. Und wenn du hundert Jahre alt wirst, du wirst nie etwas Wichtigeres tun als das hier. Du mußt ganz tapfer sein. Tapferer, als du je zuvor gewesen bist. Du darfst niemandem trauen. Du darfst niemanden an das Kästchen lassen. Ich werde dich in ein paar Tagen holen kommen, aber wenn irgend etwas schiefgeht und ich nicht komme, mußt du dich mit dem Kästchen bis zum Winter verstecken. Dann wird alles gut werden. Wenn ich irgend jemanden wüßte, der dir helfen könnte, würde ich ihn dazu zwingen. Aber ich kenne niemanden. Du bist die einzige, die es tun kann.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Ich bin doch noch klein«, sagte sie.
»Deswegen bist du in Sicherheit. Jeder glaubt, du bist ein Niemand. Aber das stimmt nicht. Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt, und du kannst sie täuschen, weil sie das nicht wissen. Du mußt es tun, Rachel. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen, und alle anderen auch. Ich weiß, du bist klug und tapfer genug, es zu schaffen.«
Sie sah Tränen in seinen Augen. »Ich werde es versuchen, Giller. Ich werde tapfer sein und es tun. Du bist der beste Mensch auf der ganzen Welt, und wenn du sagst, ich soll es tun, dann tue ich es.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war ein großer Narr, Rachel. Ich bin alles andere als der beste Mensch der Welt. Wäre ich vorher klüger gewesen und hätte mich an das erinnert, was man mir beigebracht hat, an meine eigentliche Pflicht, vielleicht brauchte ich dich jetzt nicht darum zu bitten. Aber ebenso, wie dies das Wichtigste für dich ist, ist es auch für mich das Wichtigste, was ich je tun werde. Wir dürfen nicht versagen, Rachel. Egal, was passiert, du darfst dich von niemandem aufhalten lassen. Von niemandem.«
Er legte ihr einen Finger rechts und links an die Stirn, und sie fühlte sich plötzlich ganz sicher. Sie wußte, sie konnte es schaffen, und dann brauchte sie nie mehr zu tun, was die Prinzessin von ihr verlangte. Sie würde frei sein. Plötzlich zog Giller seinen Finger zurück.
»Es kommt jemand«, flüsterte er. Er gab ihr rasch einen Kuß. »Die guten Seelen schützen dich, Rachel.«
Er stand auf und drückte sich mit dem Rücken an die Wand hinter der Tür. Er ließ den Brotlaib unter seinen Umhang gleiten und legte einen Finger an die Lippen. Die Tür ging auf, und Rachel sprang auf die Füße. Prinzessin Violet. Rachel machte einen Knicks. Als sie wieder hochkam, verpaßte die Prinzessin ihr eine Ohrfeige und lachte. Rachel blickte zu Boden, und während sie sich die Wange rieb und die Tränen unterdrückte, erblickte sie zwischen Prinzessin Violets Füßen einen Brotkrümel. Sie warf Giller, der sich hinter der Tür an die Wand drückte, einen Blick zu. Giller entdeckte das Stück. Schneller als eine Katze bückte er sich, hob es auf und stopfte es sich in den Mund. Dann glitt er unbemerkt hinter Prinzessin Violets Rücken zur Tür hinaus.
Kahlan streckte ihm die Arme entgegen, die Hände zu Fäusten geballt, die Innenseiten der Handgelenke zusammengepreßt, und wartete, daß er sie mit dem Seil fesselte. Ihre aufgerissenen Augen starrten ins Nichts. Sie sei nicht müde, hatte sie gemeint. Richard dagegen war es ganz bestimmt. Sein Kopf pochte, ihm wurde schlecht. Also übernahm sie die erste Wache. Was das wert war, bei ihrem leeren Blick, wußte er nicht.
Er hielt das Tau zwischen seinen zitternden Fäusten gespannt. Innerlich spürte er bereits, wie seine letzte Hoffnung endgültig dahinschwand. Nichts änderte sich, nichts wurde besser, wie er gehofft hatte. Es war ein einziger, endloser Kampf zwischen ihm und ihr. Sie wollte sterben, und er versuchte unermüdlich, sie daran zu hindern.
»Ich kann nicht mehr«, hauchte er und blickte im Schein des kleinen Feuers auf ihre Handgelenke. »Du hast vielleicht den Wunsch zu sterben, Kahlan, aber in Wirklichkeit tötest du mich.«
Sie sah ihn aus ihren grünen Augen an. Das Flackern des Feuers spiegelte sich in ihnen. »Dann laß mich gehen, Richard, bitte. Wenn dir irgend etwas an mir liegt, dann laß mich gehen.«
Er ließ das Tau fallen. Mit zitternden Händen zog er ihr Messer aus seinem Gürtel und betrachtete es minutenlang in seiner Hand. Das Funkeln der Klinge verschwamm ihm vor den Augen. Er umklammerte fest den Griff und steckte das Messer in die Scheide an ihrem Gürtel.
»Du hast gewonnen. Verschwinde von hier. Geh mir aus den Augen.«
»Richard…«
»Ich sagte: verschwinde!« Er zeigte auf den Weg, den sie gekommen waren. »Geh zurück und laß dich von den Gars fressen, mit dem Messer vermasselst du es vielleicht noch! Ich finde den Gedanken unerträglich, daß du nach allem mit dem Leben davonkommen könntest.«
Er drehte ihr den Rücken zu und setzte sich auf eine vom Sturm abgeknickte Fichte ans Feuer. Sie sah ihn schweigend an, dann entfernte sie sich ein paar Schritte weit.
»Richard … ich will nicht, daß es so endet — nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben.«
»Mir ist egal, was du willst. Du hast es verspielt.« Er brachte die Worte nur mit Mühe hervor. »Geh mir aus den Augen.«
Kahlan nickte und starrte zu Boden. Richard beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie, vergrub das Gesicht in den zitternden Händen. Er glaubte, sich übergeben zu müssen.
»Richard«, sagte sie mit sanfter Stimme, »ich hoffe, du behältst mich in guter Erinnerung, wenn das alles vorbei ist, und denkst dann besser von mir als jetzt.«
Das gab den Ausschlag. Er stemmte einen Stiefel gegen den Stamm und war mit einem Satz bei ihr. Im Nu hatte er ihr Hemd gepackt.
»Du wirst mir nur als das in Erinnerung bleiben, was du bist. Eine Verräterin! Eine Verräterin an allen, die schon gestorben sind, und denen, die noch sterben werden!« Mit aufgerissenen Augen versuchte sie, zurückzuweichen, von ihm fort, doch er hielt sie wie besessen fest. »Eine Verräterin an allen Zauberern, die ihr Leben gegeben haben, an Shar, Siddin und all den Schlammenschen, die getötet wurden! Und eine Verräterin an deiner Schwester!«
»Das ist nicht wahr…«
»Eine Verräterin an all diesen Menschen, und noch mehr! Sollte ich scheitern und Rahl gewinnen, haben wir alle das dir zu verdanken, und Darken Rahl ebenfalls. Ihm hilfst du, sonst niemandem.«
»Ich tue das, um dir zu helfen! Du hast gehört, was Shota gesagt hat!« Sie geriet allmählich in Wut.
»Das gilt nicht. Nicht für mich. Ja, ich habe gehört, was Shota gesagt hat. Sie hat gesagt, daß ihr beide, Zedd und du, euch irgendwie gegen mich stellen werdet. Sie hat nicht gesagt, daß dies ein Fehler sei.«
»Was willst du damit sagen…«
»Für mich ist das keine Suche nach irgendeinem heiligen Gral. Es geht darum, Rahl aufzuhalten! Woher willst du wissen, daß ich ihm das Kästchen nicht bringe, sobald wir es gefunden haben? Was, wenn ich uns verrate und nur du und Zedd mich daran hindern könnt, Rahl das Kästchen zu geben?«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Macht es vielleicht mehr Sinn, daß du und Zedd mich töten wollt? Dann müßten zwei sich irren, im anderen Fall nur einer. Es ist doch nur dieses dämliche Hexenrätsel! Du bringst dich wegen eines dämlichen Rätsels um! Wir können unmöglich wissen, was die Zukunft bringen wird. Wir können nicht wissen, wie diese Hexe das gemeint hat, wie und ob es wahr werden wird! Nicht, bevor es geschieht. Erst dann wissen wir, was es bedeutet, erst dann können wir etwas damit anfangen.«