»Ich weiß nur eins: Diese Prophezeiung darf sich durch mein Weiterleben nicht erfüllen. Du bist der Faden, mit dem all diese Bemühungen verwoben sind.«
»Ohne Nadel ist der Faden nutzlos! Und die Nadel bist du! Ohne dich wäre ich gar nicht erst so weit gekommen. Bei jeder Biegung habe ich dich gebraucht. Du kennst die Königin, ich nicht. Selbst wenn es mir gelänge, das Kästchen ohne dich zu finden, was dann? Wo soll ich denn hin? Ich kenne die Midlands nicht. Wo soll ich hin, Kahlan, sag mir das? Woher soll ich wissen, wo es sicher ist? Ich könnte Rahl glatt in die Hände laufen und ihm das Kästchen bringen.«
»Shota hat gesagt, du seist der einzige, der eine Chance hat. Ohne dich ist alles verloren. Nicht ich. Du. Sie hat gesagt, wenn ich lebe … Richard, das kann ich nicht zulassen. Ich werde es nicht zulassen.«
»Du verrätst uns«, fauchte er sie an.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Egal, was du denkst, Richard, ich tue das für uns.«
Mit einem Aufschrei schleuderte Richard sie so fest er konnte nach hinten. Sie landete auf dem Rücken. Er stellte sich über sie, funkelte sie wütend an. Um seine Stiefel wirbelte Staub auf.
»Sag das nicht noch mal!« sehne er, beide Hände zu Fäusten geballt. »Du tust das für dich, und zwar nur, weil es dir an Mumm für einen Sieg fehlt! Wage nicht, zu behaupten, du tätest es für mich!«
Sie rappelte sich auf, ohne die Augen von ihm abzuwenden. »Ich würde so ziemlich alles geben, damit du mich nicht so in Erinnerung behältst, Richard. Aber was ich tue, tue ich, weil ich muß. Für dich. Damit du eine Chance hast. Ich habe geschworen, den Sucher mit meinem Leben zu schützen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.« Tränen liefen ihr übers Gesicht, durch den Staub auf ihren Wangen.
Richard sah zu, wie sie in der Dunkelheit verschwand. Er kam sich vor, als hätte man einen Stöpsel in seinem Innern gezogen und sein ganzes Selbst liefe ins Leere.
Er ging zum Feuer und ließ sich am Stamm hinabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Dann zog er die Knie hoch, schlang die Arme um sie, preßte sein Gesicht hinein und weinte, wie er noch nie zuvor geweint hatte.
4
Rachel saß auf ihrem kleinen Schemel hinter der Prinzessin, schlug die Knie aneinander und dachte darüber nach, wie sie die Prinzessin dazu bringen könnte, sie rauszuschmeißen, damit sie das Kästchen mitnehmen und für immer verschwinden konnte. Dauernd mußte sie an das Brot mit dem Kästchen denken, das im Garten auf sie wartete. Sie hatte Angst, aber aufgeregt war sie auch. Aufgeregt, weil sie all den Menschen helfen würde, damit man ihnen nicht den Kopf abschlug. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, wichtig zu sein. Sie drehte ihren Saum zwischen den Fingern. Sie konnte es kaum erwarten, wegzukommen.
Die Lords und Ladies tranken alle ihr ganz besonderes Getränk. Und schienen glücklich dabei. Giller stand zusammen mit den anderen Beratern hinter der Königin. Er unterhielt sich leise mit dem Hofkünstler. Rachel mochte den Künstler nicht, er machte ihr angst. Ständig grinste er sie so komisch an. Außerdem hatte er nur eine Hand. Sie hatte gehört, wie sich die Diener darüber unterhielten, daß sie Angst hätten, der Künstler könnte ein Bild von ihnen malen.
Plötzlich machten alle ein bestürztes Gesicht. Sie starrten die Königin an. Sie wollten sich erheben. Rachel blickte zur Königin hinüber und sah, daß die Leute nicht sie anschauten, sondern etwas anderes hinter ihr. Sie riß die Augen auf, als sie die Männer sah.
Es waren die größten Männer, die sie je gesehen hatte. Ihre Hemden hatten keine Ärmel, dafür waren ihre Arme mit Metallbändern versehen, aus denen scharfe Dorne hervorstachen. Es waren die niederträchtigsten Männer, die sie je gesehen hatte, schlimmer noch als die Wärter im Verlies. Die beiden Männer sahen sich im Raum um, musterten die Leute, dann postierten sie sich zu beiden Seiten des hohen Bogens hinter der Königin und verschränkten die Arme. Mit einem empörten Schnauben drehte sich die Königin auf ihrem Sessel um und wollte sehen, was los war.
Ein Mann mit blauen Augen, langen, blonden Haaren, weißem Umhang und einem Messer mit Goldgriff im Gürtel schritt durch den Torbogen. Der bestaussehendste Mann, den sie je gesehen hatte. Er lächelte der Königin zu. Sie sprang auf.
»Welch unerwartete Überraschung!« sagte sie mit ihrer süßesten Hundestimme. »Wir fühlen uns geehrt. Aber wir hatten Euch erst morgen erwartet.«
Der Mann schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Ich konnte es nicht erwarten, herzukommen und Euer liebreizendes Gesicht wiederzusehen. Vergebt mir, daß ich zu früh bin, Majestät.«
Kichernd reichte die Königin ihm die Hand zum Kuß. Ständig mußte ihr irgend jemand die Hand küssen. Die Bemerkung des nettaussehenden Mannes überraschte Rachel. Sie hätte nie gedacht, jemand könnte die Königin für liebreizend halten. Die Königin ergriff seine Hand und führte ihn nach vorn.
»Lord und Ladies, darf ich Euch Vater Rahl vorstellen.«
Vater Rahl! Sie sah sich um, ob jemand gesehen hatte, wie sie hochgeschreckt war. Doch niemand hatte etwas bemerkt, alle starrten Vater Rahl an. Sie spürte, gleich würde er sie ansehen und merken, daß sie vorhatte, mit dem Kästchen fortzulaufen. Sie sah zu Giller hinüber, doch der erwiderte ihren Blick nicht. Er war kreideweiß. Vater Rahl war hier, bevor sie mit dem Kästchen davongerannt war! Was sollte sie jetzt bloß machen?
Sie würde tun, was Giller ihr gesagt hatte. Sie würde tapfer sein und all diese Menschen retten. Sie mußte sich nur überlegen, wie sie von hier fliehen konnte.
Vater Rahl musterte die Leute. Alle hatten sich mittlerweile erhoben. Der kleine Köter kläffte. Vater Rahls Blick wanderte zu ihm hinüber, und sein Gekläff schwand zu einem kläglichen Winseln. Rahl ließ den Blick über die Leute schweifen. Es wurde vollkommen still.
»Das Abendessen ist vorbei. Ihr werdet uns jetzt entschuldigen«, sagte er mit sanfter Stimme.
Alle fingen an zu tuscheln. Er blickte sie mit seinen stechenden blauen Augen an. Das Getuschel erstarb, und man brach auf. Erst langsam, dann schneller. Vater Rahl musterte einige der königlichen Berater, und sie verließen den Raum und schienen auch noch glücklich darüber. Einige, die er nicht ansah, blieben, darunter auch Giller. Prinzessin Violet blieb ebenfalls, und Rachel versuchte, sich hinter ihr zu verstecken, um nicht aufzufallen. Lächelnd deutete die Königin auf den Tisch.
»Wollt Ihr Euch nicht setzen, Vater Rahl? Ich bin sicher, Ihr hattet eine anstrengende Reise. Erlaubt, daß wir Euch etwas zu essen bringen. Wir haben heute abend einen köstlichen Braten.«
Er sah sie aus stahlstarren blauen Augen an. »Ich habe etwas dagegen, hilflose Tiere niederzumetzeln und dann ihr Fleisch zu verzehren.«
Rachel glaubte, die Königin würde ersticken. »Nun, äh … wir haben auch eine wunderbare Schwarzwurzsuppe und einige andere Dinge, die gewiß … es muß doch etwas geben, daß … wenn nicht, der Koch wird Euch sicherlich…«
»Vielleicht ein andermal. Ich bin nicht zum Essen gekommen, sondern um Euern Beitrag für unser Bündnis einzufordern.«
»Aber … es ist früher als erwartet, wir sind noch nicht mit den Vertragsentwürfen fertig. Es gibt zahlreiche Papiere, die unterzeichnet werden müssen, außerdem wollt Ihr sie doch sicher erst durchsehen.«
»Ich werde mit großer Freude alles unterzeichnen, was Ihr bereits fertiggestellt habt, und gebe Euch mein Wort, daß ich sämtliche Zusatzdokumente unterzeichnen werde, die Ihr vorbereitet habt. Ich vertraue auf Eure Ehrlichkeit.« Er lächelte. »Ihr habt doch nicht etwa vor, mich bei diesem Vertrag reinzulegen, oder?«
»Also wirklich, Vater Rahl, nein, natürlich nicht.«
»Seht Ihr. Wozu brauche ich dann jemanden, der die Papiere durchsieht, wenn Ihr aufrichtig und großzügig mit mir verfahrt? Ihr seid doch aufrichtig, oder?«