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Sie nickte und zwang sich zu antworten. »Ja.«

Kopfschüttelnd öffnete er die kleine Klappe. »Mach das Tor auf«, meinte er zu dem Posten innen. Sie hörte, wie der schwere Riegel zur Seite geschoben wurde.

Wieder drinnen, sah sie den Flur entlang. Der große Raum mit dem schwarz-weißen Fußboden und der Freitreppe war geradeaus, um ein paar Ecken, dann durch einige Flure und ein paar weitere große Räume. Einer davon war der Speisesaal. Das wäre der kürzeste Weg. Aber die Königin oder die Prinzessin könnten dort sein, oder sogar Vater Rahl. Sie könnten sie sehen. Das durfte sie nicht zulassen. Vielleicht nahm Prinzessin Violet sie mit hinauf in ihr Zimmer und steckte sie in ihre Schlafkiste. Es war schon spät.

Sie machte kehrt und ging rechts durch die kleine Tür. Das war der Dienstbotengang. Er war viel weiter, aber in den Gängen und Fluren für die Dienstboten würde sich niemand Wichtiges aufhalten. Keiner der Bediensteten würde sie aufhalten. Alle wußten, sie war die Gespielin der Prinzessin, und niemand wollte die Wut der Prinzessin auf sich ziehen. Sie würde unten durch die Quartiere der Bediensteten gehen müssen, unter den großen Räumen und der Küche hindurch.

Die Treppen waren alle aus Stein, an den Kanten abgetreten. Eines der oberen Fenster war ungeschützt und ließ den Regen herein, und über die Treppen lief ständig Wasser aus undichten Steinmauern. An manchen Stellen war es nur wenig, an anderen mehr, und einige der Stufen waren schleimig-grün. Sie mußte aufpassen, um nicht in den Schleim zu treten. Fackeln in Eisenhalterungen warfen gelblichrotes Licht auf die Stufen.

In den Fluren des unteren Stockwerks waren einige Leute, Diener mit Decken und Laken, Waschfrauen mit Wassereimer und Mop, Männer, die Bündel von Feuerholz für die Kamine im oberen Stock herbeischleppten. Einige blieben tuschelnd stehen. Sie wirkten aufgeregt. Sie hörte Gillers Namen und bekam einen Kloß im Hals. Neben den Quartieren der Diener brannten sämtliche Öllampen, die von den dicken Balken unter der niedrigen Decke hingen. Gruppen von Menschen standen herum und erzählten sich, was sie gesehen hatten. Rachel sah einen Mann, der sich laut unterhielt, meist mit Frauen, aber auch mit einigen Männern, die um ihn herumstanden. Das war Mr. Sanders, der Mann mit der eleganten Jacke, der die edlen Herrschaften begrüßte, wenn sie zum Abendessen kamen, und allen anderen ihre Namen verkündete.

»Hab’ es selbst gehört, von den beiden Wachen am Speisesaal. Ihr wißt schon, wen ich meine, den jungen, Frank, und diesen anderen, der hinkt, Jenkins. Sie meinten, die Wachen aus D’Hara hätten ihnen persönlich mitgeteilt, das Schloß müsse durchsucht werden, von oben bis unten.«

»Was suchen sie denn?« wollte eine Frau wissen.

»Weiß ich nicht. Den beiden haben sie es jedenfalls nicht verraten. Diese Typen aus D’Hara sind ein echter Alptraum.«

»Ich wünschte, sie fänden, was sie suchen, unter Violets Bett«, meinte ein anderer. »Geschähe ihr recht, wenn sie zur Abwechslung selbst mal einen Alptraum hätte, anstatt ihn immer nur anderen zu bereiten.« Alle lachten.

Rachel lief weiter, durch den großen Vorratsraum mit den Säulen. Auf der einen Seite standen Fässer, in Reihen übereinander gestapelt, auf der anderen Seite hatte man Kartons, Kisten und Säcke aufeinandergestellt. Der Raum roch feucht und muffig, überall konnte sie Mäuse scharren hören. Sie lief durch die Mitte, vorbei an den Lampen, die an den Säulen angebracht waren, bis zu der schweren Tür am anderen Ende. Die Angeln aus Bandeisen quietschten, als sie unter großer Mühe an dem eisernen Ring zerrte und die Tür öffnete. Sie bekam Rost vom Ring an die Hände und wischte ihn an den Steinen ab. Eine weitere große Tür rechts führte in die Verliese. Sie stieg die Treppe hoch. Es war dunkel, nur oben brannte eine Fackel. Sie hörte das Geräusch von tropfendem Wasser. Hinter der oberen Tür, die einen Spaltbreit offenstand, rannte sie, flink wie der Wind, der hier immer wehte, durch die Gänge aus Steinquadern. Sie hatte viel zuviel Angst, um zu weinen. Sie wollte, daß Sara bei ihr war. Nur fort von hier.

Endlich im oberen Stockwerk, steckte sie den Kopf durch die Tür und sah rechts und links den Gang entlang, der an Prinzessin Violets Zimmer vorbeiführte. Er war menschenleer. Auf Zehenspitzen schlich sie über den Teppich mit den Bildern von Schiffen darauf und erreichte die Tür, die in einer Nische des Flures lag. Sie drückte sich hinein, nachdem sie sich noch einmal im Flur umgesehen hatte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Im Zimmer war es dunkel. Sie huschte hinein und schloß die Tür.

Im Kamin brannte ein Feuer, aber Lampen hatte man nicht angezündet. Sie schlich durch das Zimmer, spürte das Fell unter ihren nackten Füßen. Auf Händen und Knien kroch sie in ihren Schlafkasten und zog mit einer Hand die Decke zurück. Sara war nicht da. Es war, als wäre ein kalter Hauch über ihre Haut gestrichen.

»Suchst du was?« Die Stimme von Prinzessin Violet.

Minutenlang konnte sie sich nicht bewegen. Sie schnappte nach Luft, aber es gelang ihr, die Tränen zu unterdrücken. Sie durfte nicht zulassen, daß Prinzessin Violet sie weinen sah. Sie kletterte rückwärts aus dem Kasten und sah die dunkle Silhouette vor dem Kamin. Die Prinzessin. Sie löste sich vom Kamin und machte einen Schritt in Rachels Richtung. Sie hatte die Hände hinter dem Rücken. Rachel konnte nicht erkennen, was sie in der Hand hielt.

»Ich wollte gerade in meinen Kasten klettern. Und schlafen gehen.«

»Tatsächlich?« Jetzt konnte Rachel im Dunkeln besser sehen. Sie sah das Grinsen auf Prinzessin Violets Gesicht. »Du hast nicht zufällig das hier gesucht, oder?«

Langsam holte sie die Hände hinter ihrem Rücken hervor. Sara. Rachel riß die Augen auf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, wahnsinnig werden zu müssen.

»Prinzessin Violet, bitte…«, wimmerte sie. Sie streckte flehend die Hände vor.

»Komm her, dann reden wir darüber.«

Rachel ging langsam auf die Prinzessin zu, blieb vor ihr stehen und drehte ihren Finger in den Rocksaum. Plötzlich gab ihr die Prinzessin eine Ohrfeige, fester, als sie es je zuvor getan hatte. So fest, daß Rachel ein kleiner Schrei entfuhr, als sie einen Schritt zurückgeschleudert wurde. Sie legte die linke Hand auf die brennende Wange. Tranen traten ihr in die Augen. Dann rammte sie die Faust in die Tasche, entschlossen, diesmal nicht loszuheulen.

Die Prinzessin kam einen Schritt vor und schlug mit dem Handrücken auf die andere Wange. Dieser zweite war noch schmerzhafter als der erste Schlag. Rachel biß die Zähne zusammen und ballte ihre Faust um einen Gegenstand in ihrer Tasche, damit ihr nicht die Tränen kamen.

Prinzessin Violet trat wieder vor den Kamin. »Ich habe dir doch gesagt, was passiert, wenn du jemals eine Puppe anschleppst.«

»Prinzessin Violet, bitte…« Sie zitterte, weil ihr das Gesicht so weh tat und weil sie solche Angst hatte. »Bitte, kann ich sie behalten? Sie tut Euch doch nichts.«

Die Prinzessin lachte grausam. »Nein. Ich werde sie ins Feuer werfen, genau wie ich gesagt habe. Damit du es endlich lernst. Wie heißt sie?«

»Sie hat keinen Namen.«

»Nun, egal, sie wird trotzdem gut brennen.«

Sie drehte sich zum Feuer. Rachel hatte immer noch die Faust um dieses Ding in ihrer Tasche geballt. Den magischen Feuerstab, den Giller ihr geschenkt hatte. Sie holte ihn heraus und sah ihn an.

»Wag es nicht, meine Puppe ins Feuer zu schmeißen, du wirst es bereuen.«

Die Prinzessin wirbelte herum. »Was hast du gesagt? Wie kannst du es wagen, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Du bist ein Niemand, ich bin eine Prinzessin.«

Rachel hielt den magischen Feuerstab an das Häkeldeckchen auf einem kleinen, runden Marmortisch gleich neben sich. »Brenn für mich«, flüsterte sie.

Das Deckchen ging in Flammen auf. Die Prinzessin machte ein überraschtes Gesicht. Rachel hielt den Feuerstab an ein Buch auf einem kleinen Marmortisch. Sie blickte kurz zur Prinzessin hinüber, um sich zu vergewissern, daß sie zusah, dann flüsterte sie ihre Worte, und mit einem Knall ging auch das Buch in Flammen auf. Die Prinzessin riß die Augen auf. Rachel nahm das Buch an einer Ecke und warf es unter den Blicken der Prinzessin in den Kamin. Sie wirbelte herum, machte einen schnellen Schritt und hielt den Stab an die Prinzessin.