Ulan Walcot wollte den schweren Riegel an der Tür heben.
»Aber ich will wissen, was sie da hat«, sagte der Neue.
»Nur mein Abendessen und meine Puppe«, sagte Rachel und tat, als sei es ohne jede Bedeutung.
»Laß mal sehen.«
Rachel legte das Bündel auf den Boden und löste die Knoten. Sara gab sie ihm.
Er nahm Sara in seine große Pranke, drehte sie, musterte sie. Er stellte sie auf den Kopf und hob ihr Kleid mit seinem dicken Finger. Rachel trat ihm vors Schienbein, so fest sie konnte.
»Laß das! Hast du denn gar keinen Anstand?« brüllte sie.
Die beiden anderen Wachen grölten. »Irgendwas Gefährliches darunter entdeckt?« fragte Reid.
Der Neue sah die beiden anderen an und gab ihr Sara zurück. »Was hast du sonst noch?«
»Hab’ ich doch gesagt. Mein Abendessen.«
Er wollte sich vorbeugen. »So ein kleines Ding wie du braucht ja wohl kein ganzes Brot.«
Rachel rammte die Hand in die Tasche und schloß ihre Hand fest um den Feuerstab. Sie holte ihn raus und war bereit.
»Das ist meins!« schrie sie. »Laß die Finger davon!«
»Laß sie doch«, meinte Walcot zu dem Neuen. »Die kriegt wenig genug. Oder hast du den Eindruck, die Prinzessin überfüttert sie?«
Der Neue richtete sich auf. »Wohl kaum.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Geh schon. Mach, daß du wegkommst.«
Rachel steckte den Feuerstab zurück in die Tasche und knotete das Tuch über dem Brot und dem Essen wieder zusammen, so schnell sie konnte. Mit der einen Hand drückte sie Sara fest an sich und mit der anderen, ebenso fest, das Bündel. Dann huschte sie durch die Beine der Männer zum Tor hinaus.
Als sie hörte, wie es sich mit einem lauten, metallischen Klingen hinter ihr schloß, fing sie an zu rennen. Sie rannte so schnell sie konnte, ohne sich umzudrehen, denn sie hatte zuviel Angst, um nachzusehen, ob sie jemand verfolgte. Nach einer Weile mußte sie es einfach wissen und blieb schließlich stehen, um sicherzugehen. Kein Mensch. Außer Atem setzte sie sich zum Ausruhen auf eine dicke Wurzel mitten auf dem Weg. Die Umrisse des Schlosses, die Zinnen der Mauer, die Türme mit den Lichtern, hoben sich gegen den nächtlichen Sternenhimmel ab. Nie würde sie dorthin zurückkehren, niemals. Sie und Giller wollten dahin fliehen, wo die Menschen freundlich waren, und sie würden niemals zurückkommen. Sie japste noch nach Luft, als sie eine Stimme hörte.
»Rachel?« Es war Sara.
Sie legte Sara auf den Schoß, oben auf das Bündel. »Jetzt sind wir in Sicherheit, Sara. Wir sind entwischt.«
Sara lächelte. »Da bin ich aber froh, Rachel.«
»Wir werden nie wieder an diesen gemeinen Ort zurückkehren.«
»Rachel, Giller möchte, daß du etwas weißt.«
Sie mußte sich vorbeugen. Saras Stimme war kaum zu verstehen. »Was denn?«
»Daß er nicht mitkommen kann. Du mußt ohne ihn gehen.«
Rachel kamen die Tränen. »Aber ich will, daß er mitkommt.«
»Würde er auch gerne, mehr als alles andere, Kind. Aber er muß dableiben und dafür sorgen, daß sie dich nicht finden, damit du fliehen kannst. Nur so bist du in Sicherheit.«
»Aber alleine habe ich Angst.«
»Du wirst nicht alleine sein, Rachel. Ich werde bei dir sein. Immer.«
»Aber was soll ich tun? Wo soll ich denn hin?«
»Du mußt weglaufen. Giller meint, du darfst nicht zurück in deine alte Launenfichte, dort werden sie dich finden.« Rachel machte große Augen, als sie das hörte. »Geh zu einer anderen Launenfichte und am nächsten Tag wieder zu einer anderen, lauf einfach weiter und versteck dich, bis der Winter kommt. Dann mußt du nette Menschen suchen, die sich um dich kümmern.«
»Na gut, wenn Giller das sagt, werde ich das tun.«
»Rachel, Giller hat dich sehr lieb.«
»Ich habe ihn auch lieb«, sagte Rachel. »Lieber als alles andere.«
Die Puppe lächelte.
Urplötzlich erstrahlte der Wald in gelbblauem Licht. Sie hob den Kopf. Dann hörte sie plötzlich einen lauten Knall. Sie sprang auf. Ihr Unterkiefer klappte herunter, und sie riß die Augen auf.
Vom Schloß her, aus dem Innenhof, kam ein gigantischer Feuerball geflogen.
Der Feuerball stieg in die Luft. Funken stiebten, und schwarzer Rauch quoll daraus hervor. Als es höher stieg, verwandelte sich das Feuer in schwarzen Rauch, bis alles wieder dunkel war.
»Hast du das gesehen?« fragte sie Sara.
Sara antwortete nicht.
»Hoffentlich geht es Giller gut.«
Sie schaute auf die Puppe herab, doch die sagte nichts, lächelte nicht einmal.
Rachel drückte Sara an sich und hob das Bündel auf.
»Wir machen uns besser auf den Weg, wie Giller gesagt hat.«
Als sie am See vorbeikam, schmiß sie den Schlüssel zu ihrem Schlafkasten so weit sie konnte ins Wasser. Sie lächelte, als sie ihn hineinplumpsen hörte.
Sara schwieg, als sie vom Schloß fortliefen, den Weg hinab. Rachel mußte daran denken, was Giller gesagt hatte, daß sie nicht in dieselbe Launenfichte durfte. Sie bog ab und lief einen Wildwechsel entlang, durch Dornendickicht in eine andere Richtung.
Nach Westen.
5
Ein Geräusch. Leise, zart, fauchend.
Es ergab keinen Sinn, im Dunst halb zwischen Schlafen und Wachen, sosehr er auch versuchte, es einzuordnen. Erst langsam, dann mit zunehmender Dringlichkeit wachte er auf und bemerkte den Duft bratenden Fleisches. Sofort bedauerte er, bei Bewußtsein zu sein. Ihm fiel ein, was geschehen war, wie er sich nach Kahlan sehnte. Er hatte die Knie hochgezogen und den Kopf darauf gelegt. Die Borke des Stammes in seinem Rücken drückte sich schmerzhaft ins Fleisch, und seine Muskeln waren vom Schlafen in derselben Stellung die ganze Nacht hindurch steif. Mit dem Kopf auf den Knien konnte er fast nichts erkennen, außer daß es gerade begonnen hatte, zu dämmern.
Irgend jemand oder etwas war dicht neben ihm.
Er tat, als schlafe er weiter, und schätzte ab, wo sich seine Hände und wo sich seine Waffen befanden. Das Schwert war ein gutes Stück entfernt und mußte erst weit herausgezogen werden. Das Messer nicht. Seine Fingerspitzen berührten den Walnußgriff. Er streckte sie langsam, vorsichtig, bis er den Griff in der Hand hielt und fest zupacken konnte. Was immer es war, es befand sich links, dicht neben ihm. Ein Sprung und ein Stoß mit dem Messer, überlegte er.
Vorsichtig riskierte er einen Blick. Er erschrak, als er sah, daß es Kahlan war. Sie saß aufrecht an den Stamm gelehnt und sah ihn an. Über dem Feuer briet ein Kaninchen. Er richtete sich auf.
»Was tust du hier?« fragte er argwöhnisch.
»Können wir reden?«
Richard schob das Messer zurück in die Scheide, streckte die steifen Beine und massierte sie. »Ich dachte, wir hätten uns seit gestern abend nichts mehr zu sagen.« Sofort zuckte er unter seinen eigenen Worten zusammen. Kahlan blickte ihn unergründlich von unten herauf an. »Tut mir leid«, sagte er und mäßigte seinen Ton. »Natürlich können wir reden. Worüber möchtest du sprechen?«
Sie zuckte im schwachen Licht mit den Achseln. »Ich habe viel nachgedacht.« Sie hielt einen Birkenstock in der Hand, den er am Vorabend für das Feuer geschnitten hatte, und schälte die Rinde in Stücken herunter. »Gestern abend, nachdem ich gegangen war, na ja, ich wußte, daß du Kopfschmerzen hattest…«
»Woher?«
Sie zuckte wieder mit den Achseln. »Ich sehe dir immer an den Augen an, wenn du Kopfschmerzen hast.« Ihre Stimme war leise, zart. »Ich weiß, du hast in der letzten Zeit nicht viel geschlafen, und das war meine Schuld. Ich beschloß also, bevor ich aufbreche, für dich Wache zu halten, während du schläfst. Ich war dort drüben«, sie zeigte mit dem Ast in die Richtung, »zwischen den Bäumen, von wo ich dich sehen konnte.« Sie senkte den Kopf. »Ich wollte, daß du ein wenig schläfst.«
»Du warst die ganze Nacht hier?« In Richard regte sich eine bange Hoffnung.
Sie nickte, ohne aufzusehen. »Ich habe dich gesehen und beschlossen, eine Schlinge zu basteln, wie du es mir beigebracht hast. Ich wollte sehen, ob ich etwas fürs Frühstück fangen kann. Ich habe lange geweint. Der Gedanke, du könntest so über mich denken, war unerträglich. Das hat so weh getan. Und mich wütend gemacht.«