Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küßte ihn zärtlich. Dann nahm sie ihr Gesicht ein paar Zentimeter zurück und streichelte ihm über den Hinterkopf. »Verzeih mir, daß ich dir das antue, Richard, aber man hat mich dazu abgerichtet. Ich kann nicht anders, es ist mein Lebenszweck, dir weh zu tun. Ich tue es nicht aus freien Stücken, sondern weil man mich dazu abgerichtet hat, das solltest du wissen. Ich kann nichts anderes sein als das, was ich bin. Eine Mord-Sith. Solltest du an diesem Tage sterben, mein Geliebter, dann erfülle mich mit Stolz und stirb aufrecht.«
Er war der Lebensgefährte einer Wahnsinnigen, dachte er traurig. Und sie konnte nicht einmal etwas dafür.
Sie drückte die Tür auf und betrat einen imposanten Garten. Hätte Richard nichts anderes im Kopf gehabt, er wäre beeindruckt gewesen. Sie gingen einen Weg zwischen Blumen und Sträuchern entlang, vorbei an niedrigen, weinumrankten Steinmauern und kleinen Bäumen und erreichten eine weite Rasenfläche. Ein Glasdach ließ das Licht herein, damit die Pflanzen gesund blieben und in Blüte standen.
Ein gutes Stück entfernt standen zwei vollkommen gleich aussehende riesige Männer. Sie hatten die Arme verschränkt und trugen dicht über den Ellbogen Metallbänder mit spitzen Dornen. Seitlich von ihnen stand noch ein Mann. Die Muskeln auf seiner glatten Brust wölbten sich beeindrukkend. Sein kurzgeschorenes blondes Haar stand borstengleich in die Höhe und wurde von einem einzelnen, schwarzen Streifen durchkreuzt.
Nahe der Mitte des Rasens, dicht bei einem weißen Rund aus Sand, stand, beschienen vom warmen Licht der Nachmittagssonne, mit dem Rücken zu ihnen ein Mann. Das Sonnenlicht ließ seinen weißen Umhang und sein schulterlanges blondes Haar erglühen und brach sich funkensprühend am Gold seines Gürtels und am gebogenen Dolch an seiner Hüfte.
Als sie sich ihm näherten, fiel Denna auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden. Richard hatte Anweisungen bekommen, schob sein Schwert zur Seite und tat es ihr nach.
Zusammen intonierten sie: »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Sie intonierten den Gesang nur ein einziges Mal, dann warteten sie. Richard zitterte leicht. Er dachte daran, daß er Meister Rahl niemals hätte nahe kommen dürfen, daß er sich von ihm hatte fernhalten sollen, doch wer ihm das gesagt hatte, wußte er nicht mehr — nur daß es wichtig war. Er mußte sich auf Dennas Zopf konzentrieren, um die Wut über das, was Meister Rahl ihr angetan hatte, zu unterdrücken.
»Erhebt euch, meine Kinder.«
Richard stand Schulter an Schulter mit Herrin Denna, während ihn blaue Augen eindringlich musterten. Daß das Gesicht des Meisters Freundlichkeit, Intelligenz und Güte auszustrahlen schien, besänftigte weder Richards bohrende Sorgen noch seine Gedanken, die dicht unter der Oberfläche brodelten. Die blauen Augen schweiften zu Denna.
»Du siehst heute morgen überraschend gut aus, meine Gespielin.«
»Wenn es um Schmerzen geht, ist Herrin Denna im Nehmen ebenso gut wie im Geben, Meister Rahl«, hörte Richard sich sagen.
Die blauen Augen wandten sich ihm wieder zu. Die Ruhe, der Frieden in Rahls Gesicht ließen Richard erschaudern. »Meine Gespielin hat mir berichtet, daß du nichts als Ärger machst. Dem Anschein nach hat sie nicht gelogen. Das freut mich. Was mich nicht freut, ist, daß es der Wahrheit entspricht.« Er klatschte gelassen in die Hände. »Nun, wie auch immer. Schön, dich endlich kennenzulernen, Richard Cypher.«
Denna rammte ihm den Strafer mit einem heftigen Stoß in den Rücken, um ihn daran zu erinnern, was er zu sagen hatte. »Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, Meister Rahl. Ich lebe nur, um zu dienen. Eure Gegenwart beschämt mich.«
Ein dünnes Lächeln umspielte Rahls Lippen. »Ja, davon bin ich überzeugt.« Einen unangenehmen Augenblick lang musterte er Richards Gesicht. »Ich habe einige Fragen. Du wirst sie mir beantworten.«
Richard spürte, wie er leicht zitterte. »Ja, Meister Rahl.«
»Knie dich hin«, sagte er leise.
Mit Hilfe des Strafers fiel Richard auf die Knie. Denna trat hinter ihn. Dann preßte sie ihm die Schenkel gegen die Schultern, um ihn zu stützen, um einen besseren Hebel zu haben, während sie sein Haar mit einer Faust packte. Sie zog seinen Kopf ein Stück nach hinten, so daß er gezwungen war, in die blauen Augen des Meisters zu blicken. Richard schluckte entsetzt.
Darken Rahl blickte ohne Regung auf ihn herab. »Hast du das Buch der Gezählten Schatten schon einmal gesehen?«
Irgendeine Macht in einem Winkel seines Verstandes riet Richard, nicht zu antworten. Als er schwieg, wurde Dennas Griff in seinem Haar fester, und sie bohrte ihm den Strafer in den Nacken.
In seinem Kopf explodierte ein überwältigender Schmerz. Dennas Griff in seinem Haar war alles, was ihn noch aufrecht hielt. Es war, als hätte sie den Schmerz eines ganzen Tages Ausbildung in diese eine Berührung gesteckt. Er war bewegungsunfähig, bekam keine Luft, konnte nicht einmal losbrüllen. Er befand sich jenseits allen Schmerzes. Der Schock raubte ihm sämtliches Sein und ließ an dessen Stelle nichts zurück außer alles verschlingenden Höllenqualen aus Feuer und Eis. Sie nahm den Strafer fort. Er wußte nicht, wo er war, wer er war, wer ihn hielt. Er wußte nur, daß er nie größeren Schmerz erfahren hatte und daß vor ihm ein Mann stand, der in einen weißen Umhang gehüllt war.
Blaue Augen blickten auf ihn herab. »Hast du das Buch der Gezählten Schatten schon einmal gesehen?«
»Ja«, hörte er sich sagen.
»Wo ist es jetzt?«
Richard zögerte, er wußte nicht, wie er antworten sollte. Er wußte nicht, was diese Stimme von ihm wollte. Wieder explodierte der Schmerz in seinem Kopf. Als er nachließ, liefen ihm die Tränen über die Wangen.
»Wo ist es jetzt?« wiederholte die Stimme.
»Bitte, tut mir nicht mehr weh«, jammerte er. »Ich verstehe die Frage nicht.«
»Was gibt es da nicht zu verstehen? Sag mir einfach, wo das Buch sich jetzt befindet.«
»Das Buch oder das Wissen aus dem Buch?« fragte Richard ängstlich nach.
Die blauen Augen verfinsterten sich fragend. »Das Buch.«
»Ich habe es den Flammen übergeben. Vor Jahren schon.«
Richard glaubte, die Augen würden ihn in Stücke reißen. »Und wo befindet sich das Wissen?«
Richard zögerte einen Augenblick zu lange. Als er wieder bei Bewußtsein war, riß Denna gerade seinen Kopf nach hinten, damit er wieder in die blauen Augen blickte. Richard hatte sich noch nie so allein gefühlt, so hilflos, so voller Angst.
»Wo befindet sich das Wissen, das in dem Buch stand?«
»In meinem Kopf. Bevor ich das Buch verbrannt habe, habe ich die Worte, das Wissen, auswendig gelernt.«
Der Mann stand da und starrte, regungslos. Richard wimmerte leise vor sich hin.
»Sag die Worte des Buches auf.«
Um nichts auf der Welt wollte Richard ein weiteres Mal den Strafer an seinem Hinterkopf spüren. Er zitterte vor Angst. »Die Wahrheit der Worte aus dem Buch der Gezählten Schatten, so sie von einem anderen gesprochen werden als dem, der über die Kästchen gebietet, kann nur bestätigt werden durch den Einsatz eines Konfessors…«
Konfessor.
Kahlan.
Der Name Kahlan schoß wie ein Blitz durch Richards Verstand. Die Kraft erwachte zum Leben mit Gebrüll, fegte den Nebel mit einem weißglühenden Aufflackern seiner Erinnerung fort. Alles stürzte auf ihn ein, zurückgeholt durch die in ihm aufsteigende Kraft. Richard wurde eins mit der Kraft, als er daran dachte, Darken Rahl könnte Kahlan besitzen. Oder ihr weh tun.
Darken Rahl wandte sich an die anderen Männer. Der mit dem schwarzen Streifen trat vor.
»Siehst du, mein Freund? Das Schicksal arbeitet für mich. Sie ist mit dem Alten bereits auf dem Weg hierher. Finde sie. Sorge dafür, daß man sie zu mir bringt. Nimm dir zwei Quadrone, aber ich will sie lebend, hast du verstanden?« Der Mann nickte. »Du und deine Männer, ihr steht unter dem Schutz meines Zaubers. Der Alte ist bei ihr, aber gegen einen Zauber aus der Unterwelt ist er machtlos, wenn er dann überhaupt noch lebt.« Rahls Stimme wurde härter. »Noch etwas, Demmin. Es schert mich nicht, was deine Männer mit ihr machen. Aber wenn sie hier eintrifft, sollte sie leben und in der Lage sein, ihre Fähigkeiten einzusetzen.«