Als er sie hoch genug hatte und ihr verzerrtes Gesicht vor seinem schwebte, bohrte er ihr Dennas Strafer in die Brust. Ihr Gesicht erschlaffte. Richard mußte daran denken, wie Denna Königin Milena auf diese Weise mit ihrem Strafer berührt hatte. Constance zeigte die gleiche Wirkung. Sie schüttelte sich, und der Druck in seinem Rücken ließ nach. Aber sie tat ihm immer noch weh, genau wie der Strafer in seiner Hand.
Richard biß vor Schmerz die Zähne zusammen. »Ich werde dich nicht mit dem Schwert töten. Dazu müßte ich dir alles vergeben. Ich könnte mich nie überwinden, dir den Verrat an einer Freundin zu verzeihen. Was du mir angetan hast, ja, aber nicht, was du deiner Freundin Denna angetan hast. Das ist etwas, was ich dir niemals vergeben werde.«
Constance schnappte vor Schmerzen nach Luft. »Bitte…«
»Versprochen…«, höhnte er.
»Nein … bitte … tu das nicht.«
Richard drehte den Strafer, wie er es bei Denna gesehen hatte. Constance zuckte zusammen und erschlaffte in seinen Armen. Blut rann ihr aus den Ohren. Ihr lebloser Körper glitt zu Boden.
»Ist versprochen.«
Richard starrte den Strafer lange an, den er fest mit der Faust umklammert hielt, bis er merkte, wie es schmerzte. Endlich ließ er ihn los und an der Kette um seinen Hals baumeln.
Er blickte auf die tote Mord-Sith herab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. In Gedanken bedankte er sich bei Denna, daß sie ihm beigebracht hatte, Schmerzen zu erdulden. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
Es dauerte fast eine Stunde, bis er den Ausweg aus dem Labyrinth von Hallen gefunden hatte und in die frostige Nacht und das weitläufige Gelände hinaustrat. Er hielt das Schwert fest umklammert, als er die beiden kräftigen Posten am offenstehenden Tor der Außenmauer passierte, doch die nickten nur höflich, als wäre er ein geladener Gast, der nach einem königlichen Dinner das Schloß verläßt.
Er blieb stehen und betrachtete die vor ihm liegende Landschaft unter dem Sternenhimmel. Noch nie war er so glücklich gewesen, die Sterne zu sehen. Er drehte sich um, sog alles in sich auf. Der Palast des Volkes, umgeben von hochaufragenden Mauern, lag auf einer gewaltigen Hochebene, die sich vor ihm zu einer Ebene absenkte. Die Hochebene überragte das dürre Land um gut hundert Meter, doch hatte man in die steilen Felsen eine Straße geschlagen, die sich in Serpentinen zum Flachland hinunterwand.
»Ein Pferd, Sir?«
Richard wirbelte herum. Einer der Posten hatte ihn angesprochen. »Was?«
»Ich wollte wissen, ob man Euch ein Pferd bringen soll, Sir. Ihr wollt offenbar aufbrechen. Zu Fuß ist es sehr weit.«
»Was ist zu Fuß sehr weit?«
Der Posten nickte den Steilhang hinab. »Durch die Azrith-Ebene. Ihr habt nach Westen geblickt, über die Azrith-Ebene. Bis zur anderen Seite ist es ein langer Marsch. Möchtet Ihr vielleicht ein Pferd?«
Daß es Darken Rahl so wenig auszumachen schien, was er tat, und er sich sogar ungehindert ein Pferd besorgen konnte, ging ihm an die Nerven. »Ja, ich möchte ein Pferd.«
Mit einer kleinen Pfeife blies der Posten einem anderen Mann auf der Mauer eine Folge kurzer und langer Töne zu. Richard hörte, wie die kurze Melodie wiederholt wurde und sich in der Ferne verlor.
Der Posten bezog wieder Stellung. »Wird nicht lange dauern, Sir.«
»Wie weit ist es bis zum Rang’Shada-Gebirge?«
Der Mann runzelte leicht die Stirn. »Bis wohin genau? Das Massiv ist sehr weitläufig.«
»Nordwestlich von Tamarang. Dort, wo das Gebirge Tamarang am nächsten ist.«
Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vier, vielleicht fünf Tage.« Er sah den anderen Posten fragend an. »Oder was meinst du?«
Der andere zuckte mit den Achseln. »Wenn er zügig reitet und häufig, vielleicht fünfmal, die Pferde wechselt. Aber schneller nicht.«
Richards Mut sank. Natürlich war es Darken Rahl egal, ob er ein Pferd hatte oder nicht. Wo sollte er denn hin? Michael und die Armee Westlands waren vier bis fünf Tage von hier entfernt im Rang’Shada-Gebirge. Vor Ablauf einer Woche, bis zum ersten Wintertag, konnte er unmöglich dorthin und wieder zurück. Aber Kahlan mußte näher sein. Rahl hatte diesen Kerl mit dem schwarzen Streifen im Haar und zwei Quadrone losgeschickt, sie zu holen. Was machte sie hier? Er hatte ihnen doch gesagt, sie sollten ihm nicht folgen. Er regte sich kurz über Chase auf, der seine Anweisungen nicht befolgt und sie nicht alle zurückgehalten hatte. Dann ließ sein Ärger nach. An seiner Stelle hätte er ebensowenig die Hände in den Schoß legen können, ohne zu wissen, was seinem Freund zugestoßen war. Vielleicht waren sie gar nicht mehr in den Bergen, sondern schon alle auf dem Weg hierher. Aber was sollte eine Armee hier nützen? Hier konnten zehn gute Leute einen Monat lang einer ganzen Armee trotzen.
Zwei Soldaten in voller Rüstung kamen durch das Tor galoppiert. Sie hatten ein drittes Pferd dabei.
»Möchtet Ihr vielleicht eine Eskorte, Sir?« fragte der Posten. »Die Männer sind gut.«
»Nein!« Richard wurde ungehalten. »Ich reite allein.«
Der Posten winkte die Soldaten fort.
»Ihr reitet also Richtung Südwesten?« Richard antwortete nicht, also fuhr er fort. »Tamarang. Der Palast im Rang’Shada-Gebirge, nach dem Ihr gefragt habt. Er liegt in westsüdwestlicher Richtung. Wenn ich Euch einen Rat geben dürfte, Sir?«
»Sprich weiter«, sagte Richard vorsichtig.
»Wenn Ihr diesen Weg nehmt, durch die Azrith-Ebene, werdet Ihr gegen Morgen in ein Geröllfeld zwischen steilen Hügeln gelangen. Mitten in einer tiefen Schlucht wird sich die Straße teilen. Geht nach links.«
Richard kniff die Augen zusammen. »Warum?«
»Weil es rechts einen Drachen gibt. Einen roten Drachen. Einen roten Drachen mit übelster Laune. Er gehört Meister Rahl.«
Richard stieg auf und sah mit festem Blick auf den Posten herab. »Vielen Dank für den Rat. Ich werde ihn beherzigen.«
Er gab dem Pferd die Sporen und hielt auf die steile Straße zu, die sich in Serpentinen die Flanke der Hochebene hinabwand. Hinter der ersten Kurve sah er, wie bei seinem Näherkommen eine Zugbrücke herabgelassen wurde. Als er sie erreicht hatte, war sie ganz unten, und er jagte sein Pferd im Galopp über die schweren Holzbohlen, ohne das Tempo zu drosseln. Die Straße war der einzige Zugang über die steilen Felsen hinauf zur Ebene, und der gähnende Spalt, den die Brücke überspannte, stellte für eine vorrückende Armee ein unüberwindbares Hindernis dar. Auch ohne die gewaltigen Verteidigungskräfte, die Richard hinter sich wußte, selbst ohne Darken Rahls Zauberkräfte, war der Palast des Volkes schlicht unerreichbar.
Richard trieb das Pferd über die Ebene und warf einen Blick über die Schulter auf die dunklen Umrisse des Palastes des Volkes oben auf der Hochebene, der in den Himmel ragte und einen ganzen Quadranten des Sternenhimmels zu verdecken schien. Die kalte Luft auf dem Gesicht trieb ihm die Tränen in die Augen. Vielleicht war es auch der Gedanke an Denna. Wie sehr er es auch versuchte, er bekam sie nicht aus dem Kopf. Wären da nicht Kahlan und Zedd, er hätte sich dort oben umgebracht, so sehr schmerzte es ihn.
Mit dem Schwert aus Wut zu töten, aus Raserei und Haß, war furchtbar. Mit der Magie des Schwertes zu töten, aus Liebe, übertraf jedes Grauen. Mittlerweile hatte die Klinge wieder ihren silbrigen Glanz angenommen, aber er wußte, wie er sie wieder weiß färben konnte. Hoffentlich mußte er das nicht noch einmal durchmachen. Er wußte nicht, ob er sich jemals wieder dazu würde überwinden können.
Und doch jagte er jetzt hier durch die Nacht auf der Suche nach Kahlan und Zedd, um herauszufinden, wer von den beiden das Kästchen und damit alles und jeden an Darken Rahl verraten hatte.
Das Ganze machte keinen Sinn. Warum sollte Rahl den Stein der Nacht benutzen, um Zedd in eine Falle zu locken, wenn er der Verräter war? Und wozu sollte er Kahlan Männer hinterherschicken, wenn sie es war? Shota dagegen hatte gemeint, beide würden versuchen, ihn umzubringen. Einer von beiden mußte es sein. Was sollte er tun? Das Schwert weiß färben und beide töten? Das wäre töricht. Lieber würde er selbst sterben, als einem von beiden etwas anzutun. Was aber, wenn Zedd sie betrogen hatte und Kahlan nur gerettet werden konnte, wenn er seinen alten Freund tötete? Oder war es vielleicht andersherum? Würde er dann noch immer lieber selbst in den Tod gehen?