Das wichtigste war, Darken Rahl aufzuhalten. Er mußte das letzte Kästchen wiederfinden und durfte seine Gedanken nicht länger an Dinge verschwenden, die er nicht wissen konnte. Nur Darken Rahl aufzuhalten zählte, alles andere würde sich dann schon ergeben. Er hatte das Kästchen einmal gefunden, er würde es ein zweites Mal finden. Aber wie? Die Zeit war knapp. Wie sollte er Zedd und Kahlan ausfindig machen? Er war ein einzelner Mann auf einem Pferd, und vor ihm lag ein ganzes Land, das abgesucht werden mußte. Auf den Straßen würden sie nicht reisen, jedenfalls nicht, wenn Chase bei ihnen war. Chase würde dafür sorgen, daß sie gut versteckt blieben und fern der Straßen. Richard kannte die Straßen nicht, ganz zu schweigen von den versteckten Pfaden.
Nur ein Narr würde sich an eine solche Aufgabe machen. Das Land war zu groß, um es abzusuchen.
Darken Rahl hatte zu viele Zweifel gesät. Die Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, wurden immer verworrener und verzweifelter. Sein Verstand schien im Augenblick sein schlimmster Gegner zu sein. Richard versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, und intonierte den Lobgesang, um nicht nachdenken zu müssen. Er belächelte die Idiotie, einen Lobgesang auf jemanden anzustimmen, den er töten wollte, trotzdem ritt er singend weiter in die Nacht. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl, In deinem Liebt werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Zweimal stieg er ab und führte das Pferd, um es zu schonen, die übrige Zeit jedoch ritt er schnell. Die Azrith-Ebene schien grenzenlos. Das flache, fast vegetationslose Land wollte kein Ende nehmen. Der Gesang half ihm, seinen Kopf von allen Gedanken zu befreien bis auf einen: das Entsetzen, Denna getötet zu haben. Diese Erinnerung ließ sich nicht abschütteln. Diese Tränen ließen sich nicht zurückhalten.
Mit Einbruch der Dämmerung begann er, seinen eigenen Schatten zu jagen. Felsbrocken tauchten auf, wirkten fehl am Platz in diesem ebenen Gelände. Sie warfen lange Schatten. Sie wurden zahlreicher, je weiter er ritt. Das Gelände wurde hügelig, wurde von Wasserläufen zerrissen, stieg zu Felskämmen auf. Er durchritt schmale Pässe und Spalten, dann eine Schlucht mit bröckelnden Felswänden. Die Straße schwenkte nach links, rechts zweigte eine schmalere Straße ab. Richard dachte an die Worte des Postens und lenkte das Pferd nach links.
Dann schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er brachte das Pferd zum Stehen und blickte die rechte Straße hinunter. Einen Augenblick lang überlegte er, dann riß er die Zügel nach rechts und drängte das Tier die Straße hinunter.
Darken Rahl hatte gemeint, er könne gehen, wohin er wolle, hatte ihm sogar ein Pferd überlassen. Dann hatte er vielleicht auch nichts dagegen, wenn er sich seinen Drachen ausborgte.
Er überließ es dem Pferd, sich seinen Weg zu suchen, sah sich vorsichtig um, immer die Hand am Heft seines Schwertes. Ein roter Drache war bestimmt nicht schwer auszumachen. Bis auf die Hufgeräusche auf dem harten Untergrund herrschte völlige Stille. Richard wußte nicht, wie weit es war, und ritt lange durch das Gewirr von Felsbrocken auf dem Grund der Schlucht. Vielleicht war der Drache verschwunden, vielleicht ritt Rahl ihn irgendwo selbst. Möglicherweise sogar, um das Kästchen zu besorgen. Ob das eine gute Idee war, wußte er nicht, aber eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein.
Plötzlich erglühte alles ringsum donnernd in einem blendenden Feuerball. Das Pferd scheute. Richard landete auf den Füßen und kroch auf allen vieren hinter einen Felsen, als sich die Luft mit fliegendem Gestein und Feuer füllte. Querschlagende Felssplitter zischten an seinem Kopf vorbei. Er hörte, wie das Pferd mit dumpfem Schlag zu Boden sackte, und roch verbranntes Fell. Ein gräßlich schrilles Wiehern, dann das Zermalmen von Knochen. Richard drückte sich enger an den Felsen. Er hatte Angst, hinzusehen.
Richard lauschte dem rhythmischen Aufbrausen der Flammen, dem Splittern der Knochen, dem Zerreißen von Fleisch und kam zu dem Schluß, daß dies ein äußerst törichter Einfall gewesen war. Kaum zu glauben, daß der Drache sich so gut hatte verstecken können. Hatte er etwa gesehen, wie er sich hinter einen Felsen geworfen hatte? Im Augenblick schien es nicht so. Er sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch das Gelände war zu offen, um unbemerkt einfach losrennen zu können. Er fragte sich, ob Drachen nach dem Schmaus ein Nickerchen hielten. Als er hörte, wie das Pferd gefressen wurde, drehte sich ihm der Magen um. Endlich war es vorbei. Ein paar Schnaufer. Die Schnaufer kamen näher. Richard versuchte, sich kleiner zu machen.
Krallen scharrten über den Felsen, hinter dem er sich versteckt hielt, hoben ihn in die Höhe und schleuderten ihn zur Seite. Richard blickte in stechend gelbe Augen. Fast alles andere war leuchtend rot. Der Kopf mit den biegsamen, schwarzen Dornenspitzen rund um den Unterkiefer und hinter den Ohren saß auf einem langen, dicken Hals, der aus einem gewaltigen Körper herausragte. Der sehnige Schwanz endete in schwarzen Dornenspitzen wie denen am Kopf, nur waren sie steif und fest. Der Schwanz wedelte gelassen hm und her, schob Felsbrocken zur Seite. Kräftige Muskeln spielten unter den rot glänzenden, ineinander verhakten Schuppen an den Schultern, als der Drache seine Flügel reckte. Rasiermesserscharfe Fänge, noch rot vom letzten Mahl, sprossen gleich hinter den zu einem fiesen Grinsen verzogenen Lippen in die Höhe und füllten das längliche Maul. Das Biest schnaubte. Aus der spitzen Schnauze stieg Rauch.
»Was haben wir denn hier?« meinte eine eindeutig weibliche Stimme. »Einen besonders schmackhaften Leckerbissen?«
Richard sprang auf die Füße und zog das Schwert, dessen Klirren die Luft füllte.
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Mit dem größten Vergnügen, kleiner Mann. Aber erst werde ich dich fressen.«
»Ich warne dich! Zurück! Das Schwert besitzt magische Kräfte.«
»Magische Kräfte!« keuchte der Drachen in gespieltem Entsetzen. Er legte sich eine Klaue auf die Brust. »Oh, bitte, tapferer Mann, erschlag mich nicht mit deinem Zauberschwert!« Er gab ein rauchiges Grollen von sich, das Richard für Lachen hielt.
Richard ließ das Schwert draußen, kam sich aber plötzlich albern vor. »Du hast also vor, mich zu fressen?«
»Nun, ich muß zugeben, es wäre eher zum Spaß als wegen des Geschmacks.«
»Ich habe gehört, rote Drachen seien eigentlich ein unabhängiger Schlag, du jedoch seist wenig mehr als Darken Rahls Schoßhündchen.« Ein Feuerball quoll aus der Schnauze und stieg in die Luft. »Ich dachte, vielleicht wärst du deine Fesseln gerne los und wieder unabhängig wie früher.«
Der Kopf, der größer war als er selbst, wie Richard zu seinem Entsetzen feststellte, näherte sich bis auf wenige Meter. Die Ohren schwenkten nach vorn. Eine glänzend rote Zunge, an der Spitze gespalten wie die einer Schlange, glitt neugierig auf ihn zu und untersuchte ihn. Richard hielt das Schwert zur Seite, als die Zunge seinen Körper vom Schoß bis zum Hals abtastete. Die Berührung war sanft für einen Drachen, trotzdem torkelte er ein paar Schritte zurück.
»Und wie will das ein Winzling wie du bewerkstelligen?«
»Ich versuche, Darken Rahl aufzuhalten, ihn zu töten. Wenn du mir hilfst, bist du frei.«
Der Drachen warf seinen Kopf in die Höhe. Rauch puffte aus seinen Nasenlöchern, als er lachte. Der Boden bebte. Er blickte auf Richard herab, zwinkerte, dann warf er den Kopf wieder in den Nacken und lachte erneut.
Das Grollen ließ nach, und der Kopf schwenkte zurück, die Brauen verärgert zusammengeballt. »Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, daß ich mein Schicksal in die Hände eines Winzlings wie du legen möchte. Lieber diene ich auch in Zukunft Meister Rahl.« Mit einem Grunzen wirbelte er kleine Staubwölkchen zu Richards Füßen zur Seite. »Schluß mit dem Gerede. Es wird Zeit für meinen leckeren Nachtisch.«