Zedd sah in seinen schlichten Gewändern so dürr und zerbrechlich aus wie immer. Er wich keinen Schritt zurück. Der waffenstrotzende Chase sah so gefährlich aus wie immer und wich ebensowenig zurück. Zedd packte Kahlans Arm mit seiner dürren Hand und zog sie schützend hinter sich. Chase wollte auf ihn losgehen, der Blick in seinen Augen war so finster wie seine Kleidung.
»Chase«, warnte Zedd ihn mit leiser Stimme, »sei kein Narr. Bleib, wo du bist.«
Richard blickte von einem der drei entschlossenen Gesichter zum anderen. »Was ist los mit euch dreien? Was tut ihr hier? Ich habe doch gesagt, ihr sollt mir nicht nachreiten. Ihr müßt umkehren.«
Zedd, dessen weißes Haar so zerzaust war wie immer, drehte sich ein wenig zu Kahlan. »Verstehst du, was er sagt?«
Kahlan schüttelte den Kopf und schob ein paar lange Haarsträhnen nach hinten. »Nein. Ich glaube, es ist Hoch-D’Hara, aber das spreche ich nicht.«
»Hoch-D’Hara? Was redet ihr da? Was …?«
Die Erkenntnis überkam ihn wie eine kalte Woge. Das Feindesnetz, das Darken Rahl über ihn gelegt hatte. Sie erkannten ihn nicht. Sie hielten ihn für ihren ärgsten Feind. Sie hielten ihn für Darken Rahl.
Dann fiel ihm noch etwas auf. Zumindest Zedd war überzeugt, er sei Darken Rahl, und hatte das Zaubererfeuer gegen ihn eingesetzt. Er war also nicht der Verräter. Blieb nur noch Kahlan. Erkannte sie möglicherweise, wer er wirklich war?
Der entsetzliche Gedanke drohte ihn zu ersticken, als er auf sie zuging und den Blick nicht mehr von ihren grünen Augen ließ. Kahlan drückte das Kreuz durch, hielt die Hände steif an den Seiten, den Kopf aufrecht. Die Haltung kannte Richard, es war eine Warnung. Eine ernstgemeinte Warnung. Er wußte, was ihre Berührung bei ihm anrichten würde. Er mußte an Shotas Warnung denken. Vielleicht würde er Zedd schlagen können, Kahlan aber würde ihn besiegen.
Zedd versuchte sich zwischen die beiden zu stellen. Richard bemerkte den alten Mann kaum, als er ihn aus dem Weg stieß. Zedd stellte sich hinter ihn und legte Richard seinen dünnen Finger in den Nacken. Der Schmerz glich fast dem des Strafers. Feuer schoß durch seine Arme bis hinunter in die Beine. Wäre er nicht all die ganze Zeit Denna ausgeliefert gewesen, die Finger des Zauberers hätten ihn vor Schmerz gelähmt. Doch Denna hatte lange Zeit damit verbracht, ihn auszubilden, hatte ihn lange gezwungen, Schmerzen auszuhalten, solche wie diese und schlimmere. Zedd war Denna in dieser Hinsicht ebenbürtig, doch Richard riß sich tief in seinem Innern zusammen, verbannte den Schmerz aus seinem Kopf und erlaubte dem magischen Zorn des Schwertes, seinen Platz einzunehmen. Er warf Zedd einen warnenden Blick zu. Der Zauberer ließ nicht von ihm ab. Richard verpaßte ihm zum zweiten Mal einen Stoß. Er stieß fester zu als beabsichtigt, und Zedd ging zu Boden. Kahlan stand wie erstarrt vor ihm.
»Wen siehst du in mir? Darken Rahl oder Richard?«
Sie zitterte leicht, schien sich nicht bewegen zu können. Plötzlich bemerkte Richard, wie er die Spitze seines Schwertes auf ihre Kehle gerichtet hielt. Er hatte es vorher überhaupt nicht wahrgenommen, es war, als hätte die Magie es von allein dorthin geführt. Aber er wußte, daß das nicht stimmte. Das war er selbst gewesen. Deswegen zitterte sie auch. Ein Blutstropfen erschien auf ihrer Haut unterhalb der Schwertspitze und wurde größer. Wenn sie die Verräterin war, mußte er sie töten.
Die Klinge war weiß geworden. Wie Kahlans Gesicht.
»Wen siehst du?« wiederholte er flüsternd.
»Was hast du mit Richard gemacht?« Ihr Flüstern war heiser vor Wut. »Wenn du ihm etwas angetan hast, dann bringe ich dich um, das schwöre ich.«
Er mußte daran denken, wie sie ihn geküßt hatte. Das war nicht der Kuß einer Verräterin gewesen, sondern ein Kuß voller Liebe. Er merkte, daß er sie unter keinen Umständen würde töten können, selbst wenn sie es wäre. Aber sie war es nicht. Mit Tränen in den Augen ließ er das Schwert zurück in die Scheide gleiten.
»Tut mir leid, Kahlan. Die guten Seelen mögen mir vergeben. Ich weiß, du kannst mich nicht verstehen, trotzdem möchte ich mich entschuldigen. Darken Rahl wendet das erste Gesetz der Magie auf mich an und versucht, uns gegeneinander aufzuhetzen. Er will mich zwingen, eine Lüge zu glauben, und fast wäre es ihm gelungen. Ich weiß, du und Zedd würdet mich nie verraten. Vergib mir, daß ich es auch nur in Erwägung gezogen habe.«
»Was willst du?« fragte Zedd. »Wir verstehen dich nicht.«
»Zedd…« Er fuhr sich voller Verzweiflung mit den Fingern durchs Haar. »Was kann ich tun, damit du mich verstehst?« Er packte den Umhang des Zauberers mit beiden Fäusten. »Wo ist das Kästchen, Zedd? Ich muß das Kästchen haben, bevor Rahl es findet! Er darf es nicht in die Hände bekommen!«
Zedd runzelte die Stirn. Richard wußte, es war zwecklos, niemand verstand ihn. Er ging zu den Pferden und fing an, im Gepäck etwas zu suchen.
»Such, soviel du willst, du wirst es niemals finden«, meinte der Zauberer mit einem Grinsen. »Wir haben das Kästchen nicht. In vier Tagen bist du tot.«
Richard spürte eine Bewegung hinter seinem Rücken. Er wirbelte herum. Chase hatte die Keule erhoben. Ein Feuerstrahl schoß zwischen ihnen hindurch. Scarlet ließ das Feuer brennen, bis Chase zurückwich.
»Schöne Freunde hast du«, brummte Scarlet.
»Darken Rahl hat ein magisches Netz um mich gelegt. Sie können mich nicht erkennen.«
»Wenn du noch länger bei ihnen bleibst, werden sie dich sogar töten.«
Richard wurde klar, daß sie das Kästchen nicht bei sich hatten. Nicht, wenn sie nach D’Hara gekommen waren, um ihn zu retten. Sie hätten niemals riskiert, Rahl das Kästchen zu bringen. Die drei beobachteten ihn und den Drachen schweigend.
»Scarlet, sag du etwas zu ihnen, vielleicht verstehen sie dich.«
Der Drache schwenkte den Kopf dichter zu den dreien hinüber. »Das ist nicht Darken Rahl, sondern euer Freund, verborgen unter einem magischen Netz. Versteht mich denn keiner von euch?«
Die drei standen da und schwiegen. Richard ging voller Erregung zu Zedd.
»Zedd, bitte versuch mich zu verstehen. Suche nicht nach dem Stein der Nacht. Wenn du es tust, wird Darken Rahl dich in die Unterwelt verbannen. Versuch doch zu verstehen!«
Keiner der drei verstand auch nur ein Wort von dem, was er sagte. Als erstes mußte er das Kästchen finden, dann wollte er zurückkommen und sie vor den Männern beschützen, die Rahl auf sie angesetzt hatte. Zögernd bestieg er wieder Scarlets Rücken. Sie hielt ein wachsames Auge auf die drei, stieß zur Warnung etwas Rauch und Feuer aus. Richard wünschte sich verzweifelt, bei Kahlan bleiben zu können, aber das war unmöglich — zuerst mußte er das Kästchen finden.
»Nichts wie fort von hier. Wir müssen meinen Bruder finden.«
Mit einem donnernden Feuerball warnte Scarlet die drei, zurückzubleiben, dann erhob sie sich in den Himmel. Richard klammerte sich fest an ihre Dornen. Ihr roter, schuppiger Hals streckte sich, während sie immer höher zwischen die am Himmel treibenden Wolken stieg und sich zwischen ihnen hindurchschlängelte. Er beobachtete, wie seine drei Freunde ihnen nachschauten, bis er sie nicht mehr erkennen konnte. Er fühlte sich hilflos und verzweifelt. Wie gerne hätte er Kahlan wenigstens einmal lächeln gesehen.
»Was jetzt?« fragte Scarlet über die Schulter.
»Wir müssen meinen Bruder finden. Er müßte sich mit einer Armee von mindestens tausend Mann irgendwo zwischen hier und dem Rang’ShadaGebirge befinden. Sie dürften nicht schwer zu finden sein.«
»Sie konnten mich nicht verstehen. Offenbar wirkt das Netz auch bei mir, weil ich bei dir bin. Das Netz ist trotzdem für Menschen und nicht für Drachen gedacht, denn ich kann die Wahrheit erkennen. Wenn diese drei dich aufgrund des magischen Netzes töten wollten, dann werden das die anderen mit Sicherheit auch wollen. Gegen tausend Mann kann ich dich nicht beschützen.«