»Ich muß es versuchen. Ich lasse mir etwas einfallen. Michael ist mein Bruder, ich werde ihn irgendwie dazu bringen, die Wahrheit zu erkennen. Er ist mit seinen Truppen auf dem Weg hierher, um mir zu helfen. Ich brauche dringend seine Hilfe.«
Da eine Armee leichter zu erkennen war, flogen sie in großer Höhe, um eine größere Fläche überblicken zu können. Scarlet zog weite Schleifen zwischen den gewaltigen, watteähnlichen Wolken. Richard war überrascht, wie groß Wolken tatsächlich waren, als er sie jetzt aus der Nähe sah. Er kam sich vor wie in einem Wunderland aus weißen Bergen und Tälern. Der Drache streifte ihre dunkle Unterseite, durchflog gelegentlich einen feuchten, tiefer hängenden Ausläufer. Dann verschwand Scarlets Kopf im Weiß am Ende ihres Halses, manchmal auch ihre Flügelspitzen. Im Vergleich zu den Wolken wirkte sogar Scarlet klein und unbedeutend.
Sie suchten stundenlang, ohne auch nur die Spur einer Armee zu entdekken. Richard hatte sich so an das Fliegen gewöhnt, daß er sich nicht mehr die ganze Zeit an Scarlets Dornen zu klammern brauchte. Er lehnte sich zwischen zwei, entspannte sich und suchte die Landschaft unter ihnen ab.
Während des Fluges überlegte Richard, was er tun konnte, um Michael von seiner Identität zu überzeugen. Bestimmt hatte Michael das Kästchen, Zedd mußte es bei ihm gelassen haben. Zedd hatte es bestimmt mit Hilfe von Zauberkraft vor Rahl versteckt und es im Schutz der Armee zurückgelassen. Er mußte sich einen Weg überlegen, wie er Michael zeigen konnte, wer er war. Sobald er das Kästchen hatte, wollte er Scarlet bitten, es in ihre Höhle zu ihrem Nachwuchs zu fliegen. Dort war es vor Rahl sicher. Anschließend konnte er zurück zu Kahlan, um sie vor Rahls Leuten zu beschützen. Vielleicht konnte er Scarlet überreden, sie ebenfalls in ihre Höhle zu fliegen. Dort wäre sie vor den Männern sicher. Noch dreieinhalb Tage, dann würde Darken Rahl sterben. Und Kahlan wäre endgültig in Sicherheit. Für immer. Dann würde er zurück nach Westland gehen und wäre diese ganze Zauberei für immer los. Und damit auch Kahlan. Die Vorstellung, sie nie wiederzusehen, quälte ihn, nahm ihm die Kraft.
Am späten Nachmittag entdeckte Scarlet die Armee. Aus dieser Höhe konnte sie besser sehen als er. Sie waren noch ein gutes Stück entfernt, und Richard mußte lange hinschauen. Anfangs sah er nicht mehr als eine dünne Staubwolke, dann erst die Truppen, die sich die Straße entlang bewegten.
»Nun, was hast du für einen Plan? Was willst du tun?« rief sie zu ihm nach hinten.
»Meinst du, du könntest vor ihnen landen, ohne daß sie uns sehen?«
Ein großes, gelbes Auge musterte ihn finster. »Ich bin ein roter Drache. Ich könnte uns mitten unter ihnen absetzen, ohne daß sie mich sehen, wenn ich es will. Wie nah willst du an sie ran?«
»Ich will, daß sie mich nicht sehen. Ich muß zu Michael, ohne daß seine Leute etwas davon merken. Ich muß jedes Aufsehen vermeiden.« Richard überlegte einen Augenblick. »Setz uns ein paar Marschstunden vor ihnen ab. Sie sollen uns entgegenkommen. Es ist bald dunkel, dann kann ich zu Michael.«
Scarlet breitete die Flügel aus und glitt spiralförmig auf eine Hügelgruppe vor der anrückenden Armee zu. Sie ging im Schutz höhergelegenen Geländes runter, flog die Täler hinauf, blieb außer Sichtweite der Straße und landete auf einer kleinen, mit hohem, braunem Gras bewachsenen Lichtung.
Ihre leuchtend roten Schuppen glänzten auffällig im Licht des späten Tages. Richard ließ sich von ihrer Schulter gleiten.
Sie drehte den Kopf. »Und nun?«
»Ich möchte warten, bis es dunkel ist und sie ihr Nachtlager aufschlagen. Sobald sie gegessen haben, kann ich mich zu Michaels Zelt schleichen und allein mit ihm sprechen. Bis dahin werde ich mir überlegen, wie ich ihn von meiner wahren Identität überzeugen kann.«
Der Drache brummte etwas, blickte hinauf in den Himmel, dann zur Straße. Sein Kopf schwenkte wieder herum und neigte sich zur Seite.
»Bald ist es dunkel. Ich muß zu meinem Ei zurück. Es braucht Wärme.«
»Verstehe, Scarlet.« Richard atmete langsam aus und dachte nach. »Hol mich morgen früh wieder ab. Bei Sonnenaufgang werde ich auf diesem Feld auf dich warten.«
Scarlet schaute in den Himmel hinauf. »Es ziehen Wolken auf.« Ihr Kopf kam wieder herunter. »Wenn es Wolken gibt, kann ich nicht fliegen.«
»Wieso?«
Sie knurrte und blies eine Rauchwolke durch ihre Nüstern. »Weil diese Wolken voller Steine sind.«
Richard runzelte die Stirn. »Steine?«
Sie wedelte ungeduldig mit dem Schwanz. »Die Wolken sind wie Nebel, man sieht nichts. Wenn man nichts sieht, stößt man sich, an Hügeln und Bergen zum Beispiel. Vielleicht täusche ich mich, aber mitten im Flug einen Felsen zu rammen, würde mir den Hals brechen. Wenn die Unterseite der Wolken hoch genug ist, kann ich unter ihnen hindurch fliegen. Wenn Spitzen tief genug sind, kann ich über sie hinwegfliegen, aber dann sehe ich den Erdboden nicht. Was ist, wenn es Wolken gibt und ich dich nicht finde oder etwas anderes schiefgeht?«
Richard stützte die Hand auf das Heft des Schwertes und blickte in die Ferne, wo die Straße sein mußte. »Wenn etwas schiefgeht, muß ich zu meinen anderen drei Freunden zurück. Ich versuche, auf der Hauptstraße zu bleiben, damit du mich sehen kannst.« Richard mußte hart schlucken. »Sollte alles andere scheitern, muß ich zurück in den Palast des Volkes. Bitte, Scarlet, wenn ich Darken Rahl in dem, was ich hier vorhabe, nicht aufhalten kann, muß ich unbedingt morgen in drei Tagen im Palast des Volkes sein.«
»Viel Zeit ist das nicht.«
»Ich weiß.«
»Drei Tage, von morgen an gerechnet, dann sind wir quitt.«
Richard lächelte. »Das war unsere Abmachung.«
Scarlet blickte wieder in den Himmel. »Die Wolken gefallen mir überhaupt nicht. Viel Glück, Richard Cypher. Ich bin morgen früh zurück.«
Sie nahm einen kurzen Anlauf und hob ab. Richard sah zu, wie sie ihn noch einmal im Tiefflug umkreiste, davonflog und kleiner wurde, bis sie zwischen den Hügeln verschwunden war. Dann traf ihn die Erinnerung wie ein Schlag, das sichere Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Am selben Tag, als er Kahlan kennengelernt hatte, gleich nachdem die Schlingpflanze ihn gestochen hatte. Er hatte sie genau wie jetzt dahinfliegen und zwischen den Hügeln verschwinden sehen. Er fragte sich, was sie an jenem Tag wohl in Westland gemacht hatte.
Durch das hohe, trockene Gras watend, marschierte Richard zu einem nahen Hügel, kletterte den spärlich bewaldeten Hang hinauf, von wo aus er jede Annäherung von Westen her beobachten konnte. Er entdeckte ein Versteck im Gebüsch, machte es sich bequem und holte etwas Trockenfleisch und Obst heraus. Er hatte sogar noch ein paar Äpfel. Das Essen schmeckte ihm nicht. Er hielt nach der Armee Westlands und seinem Bruder Ausschau und überlegte dabei, was er tun konnte, um seinen Bruder von seiner Identität zu überzeugen.
Er dachte daran, es aufzuschreiben oder vielleicht sogar ein Bild oder eine Karte zu zeichnen, aber das hatte wohl wenig Aussicht auf Erfolg. Wenn das Feindesnetz seine gesprochene Sprache verändert hatte, dann wahrscheinlich auch seine geschriebene. Er versuchte, sich an Spiele zu erinnern, die sie zusammen gespielt hatten, als sie noch jung waren, aber keines fiel ihm ein. Michael hatte als Junge gar nicht so viel mit ihm gespielt. Eigentlich hatte Michael nur gerne mit Spielzeugschwertern gekämpft. Das Schwert gegen seinen Bruder zu ziehen, hätte wohl kaum die gewünschte Wirkung.
Aber da war doch etwas, erinnerte er sich. Beim Spiel mit den Schwertern hatte Michael sich auf einem Knie kniend gern von ihm militärisch die Ehre erweisen lassen. Würde Michael sich daran erinnern? Er wollte es immer wieder, nichts schien ihm mehr Freude zu machen. Michael nannte es den Gruß des Verlierers. Michael verweigerte den Salut, wenn Richard gewonnen hatte. Richard war damals körperlich unterlegen gewesen und hatte Michael nie zu dem Salut zwingen können. Michael dagegen hatte Richard oft genug dazu gebracht. Die Vorstellung ließ ihn lächeln, auch wenn es damals weh getan hatte. Vielleicht erinnerte sich Michael daran. Einen Versuch war es wert.