Noch vor Einbruch der Dunkelheit hörte Richard das Hufgetrappel der anrückenden Pferde, das Klirren der Rüstungen, das Knarren von Leder, das Rasseln von Metall, den Lärm vieler Männer auf dem Marsch. Ungefähr fünfzig schwerbewaffnete Reiter ritten in raschem Galopp vorbei, wirbelten Staub und Dreck auf. Er sah Michael, ganz in Weiß, an ihrer Spitze. Richard erkannte die Uniformen, das Wappen Kernlands auf jeder Schulter, das gelbe Banner mit der blauen Silhouette aus Fichten und den gekreuzten Schwertern darunter. Jeder der Männer trug ein Kurzschwert über der Schulter, eine in den breiten Gürtel gehakte Streitaxt sowie einen kurzen Speer. Auf ihren Kettenhemden, Kampfnetze genannt, blinkte das Sonnenlicht durch den Staub. Das waren keine regulären Westlandtruppen, das war Michaels Leibgarde. Wo war die Armee? Aus der Luft hatte er sie alle, Reiter und Fußsoldaten, vereint gesehen. Diese Pferde ritten zu schnell, als daß Fußtruppen ihnen auf einem Marsch hätten folgen können. Richard stand auf, nachdem sie vorbei waren, und blickte die Straße hinunter, um zu sehen, ob die anderen folgten. Niemand sonst kam.
Anfangs war er besorgt, was dies bedeuten könnte, dann wurde er ruhiger und lächelte, als es ihm dämmerte. Zedd, Chase und Kahlan hatten das Kästchen bei Michael gelassen und ihm gesagt, sie würden nach D’Hara reiten und Richard suchen. Vermutlich hielt es Michael nicht länger aus und wollte ihnen helfen. Die Fußsoldaten konnten mit dem Tempo nicht Schritt halten, das man einschlagen mußte, wenn man den Palast des Volkes rechtzeitig erreichen wollte, also war Michael mit seiner Leibgarde vorausgeritten und hatte die anderen zurückgelassen, damit sie so bald wie möglich aufschließen konnten.
Fünfzig Mann, selbst Michaels Leibgarde, so hart sie auch sein mochten, waren nicht gerade viel, wenn sie auf einen ausreichend großen Trupp von Rahls Leuten stießen. Michael hatte vor Sorge offenbar alle Vernunft vergessen.
Richard hatte sie erst eine ganze Weile nach Einbruch der Dunkelheit eingeholt. Sie waren scharf geritten und hatten erst spät haltgemacht. Sie waren ihm weiter voraus, als er vermutet hatte, und er erreichte ihren Lagerplatz erst eine ganze Weile, nachdem sie gegessen hatten. Die Pferde waren versorgt und für die Nacht eingezäunt worden. Einige der Männer hatten sich bereits in ihre Schlafdecken gerollt. Man hatte Wachen aufgestellt, die im Dunkeln schwer zu entdecken waren. Richard wußte jedoch, wo er sie zu vermuten hatte, als er von einem Hügel auf das Lager hinabblickte und die kleinen Lagerfeuer beobachtete.
Die Nacht war dunkel. Der Mond verbarg sich hinter Wolken. Er arbeitete sich vorsichtig den Hügel hinab und schlich leise zwischen den Posten hindurch. Richard war in seinem Element. Es fiel ihm leicht, er wußte, wo sie waren, und sie erwarteten nicht, daß er zwischen ihnen hindurchschlich. Er behielt sie im Auge und duckte sich, sobald sie in seine Richtung blickten. Nachdem er den Ring aus Posten durchbrochen hatte, ging er sofort Richtung Lager. Michael hatte es ihm leichtgemacht. Sein Zelt befand sich etwas abseits, ein Stück von den Männern entfernt. Hätte es in der Mitte gestanden, wäre es wesentlich schwieriger gewesen. Allerdings waren rings um das Zelt Wachen postiert. Richard beobachtete sie eine Zeitlang, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo er zwischen ihnen hindurchschlüpfen konnte: im Schatten des Zeltes, dem Schatten, der von den Feuern geworfen wurde.
Richard pirschte durch die Dunkelheit bis zum Zelt und ging in die Hokke. Er rührte sich nicht und kauerte still da. Lange lauschte er, um herauszufinden, ob jemand bei Michael im Zelt war. Er hörte das Rascheln von Papieren, eine Lampe brannte, aber sonst hörte er drinnen niemanden. Vorsichtig schnitt er ein winziges Loch in das Zelt, gerade groß genug, um hindurchzusehen. Michael saß mit der linken Seite zu ihm an einem kleinen, klappbaren Feldtisch und sah Papiere durch. Er hatte den Kopf mit dem widerspenstigen Haarschopf auf die Hand gestützt. Die Papiere schienen weder Linien noch Worte aufzuweisen, und soweit Richard sehen konnte, waren sie groß. Vermutlich Karten.
Er mußte hineingehen, sich aufrichten, auf ein Knie fallen lassen und seinen Gruß vorbringen, bevor Michael Gelegenheit hatte, Alarm zu schlagen. Drinnen, gleich unter ihm, stand ein Feldbett. Genau das Richtige, um unbemerkt ins Zelt zu gelangen. Er hielt das Seil unter Spannung, damit es keinen plötzlichen Ruck gab, dann schnitt er das Halteseil ungefähr in der Mitte durch, wo das Feldbett stand, rollte das Segeltuch ein Stück nach oben und glitt vorsichtig hindurch, hinter das Bett.
Als sich Michael nach einem Geräusch umdrehte, erhob sich Richard vor dem kleinen Tisch, dicht vor seinem Bruder. Richard mußte grinsen, als er seinen älteren Bruder wiedersah. Michaels Kopf fuhr herum. Die Farbe wich aus seinen weichen Zügen. Er sprang auf. Richard wollte gerade seinen Gruß anbringen, als Michael zu sprechen anfing.
»Richard … wie bist du … was tust du hier? Es ist so … so schön … dich wiederzusehen. Wir haben uns … alle solche Sorgen gemacht.«
Richards Lächeln erstarb.
Rahl hatte gesagt, mit dem Feindesnetz würden ihn nur die Verehrer Rahls erkennen.
Und Michael hatte ihn erkannt.
Michael war der Verräter. Michael hatte akzeptiert, daß er gefangengenommen und von einer Mord-Sith gefoltert worden war. Michael war es, der Kahlan und Zedd an Rahl ausliefern würde. Und alle anderen auch. Sein Innerstes gefror zu Eis.
Richard brachte nicht mehr als ein Flüstern hervor. »Wo ist das Kästchen?«
»Äh … du siehst hungrig aus, Richard. Ich werde dir etwas zu essen bringen lassen. Dann unterhalten wir uns. Es ist so lange her.«
Richard ließ die Hände vom Schwert, aus Angst, er könnte es gebrauchen. Eisern erinnerte er sich daran, daß er der Sucher war, und das war alles, was im Augenblick zählte. Er war nicht Richard, er war der Sucher. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen. Er durfte sich nicht wie Richard verhalten. Im Augenblick gab es Wichtigeres. Viel Wichtigeres.
»Wo ist das Kästchen?«
Michaels Blicke flogen umher. »Das Kästchen … Nun … Zedd hat mir davon erzählt … er wollte es mir geben … aber dann meinte er, er wolle dich mit Hilfe irgendeines Steines in D’Hara finden, und dann sind die drei aufgebrochen, um dich zu suchen. Ich sagte, ich wolle mitkommen, um meinen Bruder zu retten, müßte aber meine Männer sammeln und Vorbereitungen treffen, also sind sie vorausgeritten. Zedd hat das Kästchen behalten. Er hat es.«
Jetzt war es Richard klar; Darken Rahl hatte das dritte Kästchen. Er hatte die Wahrheit gesagt.
Der Sucher unterdrückte seine Gefühle und schätzte kurz die Lage ab. Er mußte zu Kahlan, das war das einzige, was jetzt zählte. Sie war es, die darunter zu leiden hätte, wenn er jetzt den Kopf verlor. Sie war es, die es mit dem Strafer zu tun bekommen würde. Er stellte fest, daß er sich in Gedanken auf Dennas Zopf konzentrierte. Er ließ es geschehen. Hauptsache, es funktionierte, redete er sich ein. Er konnte Michael nicht töten und riskieren, von all den Männern draußen gefangengenommen zu werden. Er durfte Michael nicht einmal sagen, was er wußte. Das führte zu nichts und würde nur andere in Gefahr bringen.
Er atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Nun, Hauptsache, das Kästchen ist in Sicherheit. Das allein zählt.«
Ein Teil der Farbe kehrte in Michaels Gesicht zurück, und er fing an zu lächeln. »Richard, wie geht es dir? Du … hast dich verändert. Du siehst aus, als hättest du … eine Menge durchgemacht.«
»Mehr als du dir vorstellen kannst, Michael.« Er ließ sich auf dem Feldbett nieder. Michael ging zögernd wieder zu seinem Stuhl. In seinen weiten, weißen Hosen, dem Hemd und dem goldenen Gürtel um seine Hüften sah er aus wie ein Jünger Darken Rahls. Richard bemerkte die Karten, die sein Bruder betrachtet hatte. Karten von Westland. Für Darken Rahl. »Ich war in D’Hara, genau wie Zedd dir erzählt hat, aber ich bin geflohen. Wir müssen fort von D’Hara. So weit fort wie möglich. Ich muß die anderen finden, bevor sie dort nach mir suchen. Du kannst deine Männer jetzt zurückziehen, die Armee zurückbringen und Westland beschützen. Ich danke dir, Michael, daß du gekommen bist, um mir zu helfen.«