Der Schleier, wie er in den Prophezeiungen hieß, der Schleier zwischen der Welt des Lebens und der Unterwelt. Wenn der Schleier durch die Magie der Ordnung zerrissen wurde, durch einen Agenten, dann, so hieß es in den Prophezeiungen, könne nur der ihn wiederherstellen, der das Schwert der Wahrheit weiß gefärbt hatte. War er dazu nicht in der Lage, würde die Unterwelt auf die Welt der Lebenden losgelassen. Das Wort ›Agent‹ hatte eine grauenhafte Bedeutung, die Zedd größte Sorge bereitete. Es konnte bedeuten, daß Darken Rahl nicht aus eigenem Antrieb handelte, sondern als Beauftragter. Als Beauftragter der Unterwelt. Daß er die subtraktive Magie, die Magie der Unterwelt, gemeistert hatte, deutete darauf hin. Das hieß auch, sollte Rahl scheitern und würde er getötet, könnte die Magie der Ordnung nach wie vor den Schleier zerreißen. Zedd versuchte, sich nicht auszumalen, was diese Prophezeiungen bedeuteten. Die Vorstellung, die Unterwelt könne freigesetzt werden, schnürte ihm die Kehle zu. Lieber würde er vorher sterben. Am besten würden alle vorher sterben.
Zedd drehte den Kopf zur Seite und beobachtete Kahlan im Schlaf. Die Mutter Konfessor. Die letzte aus der Schöpfung der alten Zauberer. Ihre Qual tat ihm in der Seele weh. Auch weil er ihr nicht hatte helfen können, als Darken Rahl ihr das Schwert an die Kehle gehalten hatte. Ihn quälte, was sie für Richard empfand und was er ihr nicht erzählen durfte.
Wäre es bloß nicht Richard gewesen. Jeder, nur nicht Richard. Nichts war jemals einfach.
Zedd setzte sich wie gehetzt auf. Etwas stimmte nicht. Es war schon zu hell, und Chase war noch nicht zurück. Er berührte Kahlans Stirn mit dem Finger. Sie war sofort hellwach.
Seine Sorgen spiegelten sich in Kahlans Gesicht. »Was ist?« flüsterte sie.
Zedd saß regungslos da und spürte die Umgebung nach Leben ab. »Chase ist noch nicht zurück. Sollte er aber.«
Sie sah sich um. »Vielleicht ist er eingeschlafen.« Zedd zog eine Braue hoch. »Vielleicht gibt es einen triftigen Grund. Vielleicht ist es auch nichts.«
»Unsere Pferde sind verschwunden.«
Kahlan sprang auf und griff nach ihrem Messer. »Kannst du spüren, wo er sich befindet?«
Zedd zuckte zusammen. »Es ist jemand in der Nähe. Leute, die von der Unterwelt berührt worden sind.«
Er sprang auf die Beine. Im selben Augenblick wurde Chase ins Lager gestoßen, stolperte und stürzte aufs Gesicht. Man hatte ihm die Arme fest auf den Rücken gebunden, und er war voller Blut. Einer Menge Blut. Er stöhnte. Zedd spürte die Gegenwart von vier Männern, die sie umzingelten. Vier Männer. Was er von ihnen spürte, ließ ihn zurückweichen.
Der Große, der Chase ins Lager gestoßen hatte, trat vor. Sein kurzes blondes Haar stand struppig in die Höhe und war durchzogen von einem schwarzen Streifen. Seine kalten Augen, sein Grinsen ließen den Zauberer gefrieren.
Kahlan stand halb geduckt. »Demmin Nass«, zischte sie.
Er hakte seine Daumen in den Gürtel. »Aha. Du hast also schon von mir gehört, Mutter Konfessor.« Sein boshaftes Grinsen wurde breiter. »Auf jeden Fall habe ich schon von dir gehört. Dein Freund hier hat fünf meiner besten Männer getötet. Ich werde ihn später, nach den Feierlichkeiten, exekutieren. Ich möchte, daß er in den Genuß kommt, sich anzuschauen, was wir mit dir machen.«
Kahlan sah sich um, als drei weitere Männer, nicht ganz so groß wie Demmin Nass, aber größer als Chase, aus dem Wald traten. Sie waren umzingelt, doch das war für einen Zauberer kein Problem. Die Männer waren alle blond, muskelbepackt und trotz der Kühle in der Luft schweißbedeckt. Im Augenblick hatten sie ihre Waffen weggesteckt; offenbar waren sie sich ihrer Sache sehr sicher. Ihre Dreistigkeit nervte Zedd. Ihr Grinsen machte ihn wild. Im frühen Licht wirkten die vier blauen Augenpaare noch stechender.
Zedd wußte sehr wohl, daß es sich um ein Quadron handelte, und er wußte ebensogut, was sie mit Konfessoren machten. Sehr gut sogar. Das Wissen brachte sein Blut in Wallung. Auf keinen Fall würde er zulassen, daß Kahlan etwas zustieß. Nicht, solange er lebte.
Demmin Nass und Kahlan starrten sich an.
»Wo ist Richard? Was hat Rahl mit ihm gemacht?« wollte sie wissen.
»Wer?«
Sie knirschte mit den Zähnen. »Der Sucher.«
Demmin grinste. »Also, das geht nur Meister Rahl und mich etwas an. Dich nicht.«
»Raus damit.« Sie starrte ihn haßerfüllt an.
Sein Grinsen wurde breiter. »Du hast jetzt wichtigere Sorgen, Konfessor. Du wirst meinen Männern gleich eine Menge Freude machen. Ich möchte, daß du deine Gedanken darauf konzentrierst und alles tust, damit sie ihren Spaß haben. Der Sucher braucht dich nicht zu interessieren.«
Zedd beschloß, daß es an der Zeit war, dem ein Ende zu machen, bevor noch mehr passierte. Er hob die Arme und setzte das stärkste Lähmungsnetz frei, das er zustande brachte. Das Lager erglühte mit einem lauten Krachen in grünem Licht, das gleichzeitig in vier Richtungen davon schoß, auf jeden der blauäugigen Männer. Das grüne Licht traf mit einem dumpfen Schlag gegen jeden der Männer.
Bevor der Zauberer Zeit hatte zu reagieren, liefen ihm die Dinge grausam aus der Hand.
So schnell es sie getroffen hatte, so schnell wurde es von jedem zurückgeworfen. Zu spät erkannte Zedd, daß sie durch irgendeinen Zauber geschützt waren — einen Unterweltzauber, den er nicht hatte sehen können. Das Licht traf ihn aus vier Richtungen gleichzeitig. Sein eigenes Netz lahmte ihn auf der Stelle. Er wurde starr wie Stein. Hilflos. Was er auch tat, er konnte sich nicht bewegen.
Demmin Nass nahm den Daumen aus seinem Gürtel. »Schwierigkeiten, alter Mann?«
Mit zornerfülltem Blick streckte Kahlan die Hand aus und legte sie ihm auf die glatte Brust. Zedd bereitete sich auf die Freisetzung ihrer Kraft vor, auf den Donner ohne Hall.
Nichts geschah.
Kahlans überraschtem Gesichtsausdruck entnahm er, daß das nicht hätte passieren dürfen.
Demmin Nass schlug mit seiner Faust zu und brach ihr den Arm.
Kahlan sackte mit einem Schmerzensschrei auf die Knie. Sie kam wieder hoch, mit ihrem Messer in der anderen Hand, und ging auf den Mann vor ihr los. Er packte ihr Haar mit der Faust und hielt sie sich vom Leib. Sie bohrte ihm das Messer in den Arm, mit dem er sie gepackt hielt. Er riß das Messer heraus, drehte es ihr aus der Hand und schleuderte es in einen Baum. Dann hielt er sie am Haar und drosch ihr ein paarmal mit dem Handrücken übers Gesicht. Hart. Sie trat um sich, kratzte und schrie, er lachte bloß. Die anderen drei kamen hinzu.
»Tut mir leid, Mutter Konfessor, ich fürchte, du bist nicht mein Typ. Aber keine Sorge, die Jungs hier werden sich glücklich schätzen, dir die Ehre zu erweisen. Und beweg deinen Arsch«, grinste er fies, »das mag ich nämlich.«
Demmin schleuderte sie am Haar zu den anderen dreien. Sie stießen sie hin und her, ohrfeigten sie, schlugen sie, schleuderten sie so schnell herum, bis sie zum Stehen zu schwindlig war und vom einen Armpaar in das nächste torkelte. Sie war so hilflos wie eine Maus, mit der drei Katzen spielen. Das Haar hing ihr ins Gesicht. Kahlan schlug mit den Fäusten nach ihnen, zu orientierungslos, um jemanden zu treffen. Sie lachten nur noch mehr.
Einer von ihnen rammte ihr die Faust in den Magen. Kahlan knickte zusammen, sackte auf die Knie, wand sich vor krampfartigen Schmerzen. Ein anderer zog sie am Haar in die Höhe. Der dritte fetzte ihr die Knöpfe von der Hemdenbrust. Sie schleuderten sie derb hin und her, zerrissen ihr das Hemd, zerrten es mit jedem Mal ein Stück weiter herunter. Als sie es ihr über den gebrochenen Arm zerrten, schrie sie vor Schmerz auf.
Zedd konnte nicht einmal vor Wut beben. Er konnte nicht die Augen vor diesem Anblick verschließen, sich die Ohren gegen diesen Lärm zuhalten. Quälende Erinnerungen an eine ähnliche Szene legten sich über das gegenwärtige Geschehen. Die Erinnerungen raubten ihm den Atem. Er hätte sein Leben gegeben, um sich befreien zu können. Wenn sie sich doch nur nicht wehren würde, es machte alles nur noch schlimmer. Doch Konfessoren kämpften immer dagegen an. Mit allem, was sie hatten. Aber das würde nicht genügen.