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Nuria Monfort

Der Schatten des Windes

1955

1

Es wurde schon hell, als ich Nuria Monforts Manuskript zu Ende gelesen hatte. Das war meine Geschichte. Unsere Geschichte. In Carax’ verlorenen Schritten erkannte ich jetzt die meinen. Von Unruhe verzehrt, stand ich auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. All meine Bedenken, Besorgnisse, Befürchtungen wurden jetzt zu Asche. Müdigkeit, schlechtes Gewissen und Angst übermannten mich, aber ich fühlte mich außerstande, zu Hause zu bleiben und mich vor den Folgen meiner Taten zu verkriechen. Ich schlüpfte in den Mantel, steckte das zusammengefaltete Manuskript in die Innentasche und rannte die Treppe hinunter. Als ich aus der Haustür trat, hatte es zu schneien begonnen. Ich eilte auf die verlassene Plaza de Cataluña. In der Mitte erhob sich einsam die Gestalt eines alten Mannes mit weißem Haar, der in einem grauen Mantel steckte. König des Morgengrauens, schaute er zum Himmel empor und versuchte vergeblich, mit den Handschuhen Schneeflocken zu erhaschen, lachend. Als ich an ihm vorbeiging, schaute er mich an und lächelte feierlich, als könnte er mit einem einzigen Blick meine Seele lesen.

»Viel Glück«, glaubte ich ihn sagen zu hören.

Ich versuchte mich an diesen Segensspruch zu klammern und beschleunigte meine Schritte; ich betete, es möchte nicht zu spät sein und Bea, die Bea meiner Geschichte, noch immer auf mich warten.

Mit vor Kälte brennender Kehle und keuchend vom Laufen kam ich zu dem Haus der Aguilars. Der Schnee blieb schon liegen. Zum Glück traf ich im Eingang auf Don Saturno Molleda, Pförtner des Hauses und, wie mir Bea erzählt hatte, heimlicher surrealistischer Dichter. Den Besen in der Hand und mit nicht weniger als drei Schals und in Militärstiefeln steckend, war er herausgekommen, um sich das weiße Schauspiel anzusehen.

»Die Schuppen Gottes«, begrüßte er staunend den Schneefall.

»Ich gehe zu den Aguilars«, verkündete ich.

»Wer früh aus den Federn kommt, dem Gottes Hilfe frommt, aber in Ihrem Fall hilft die auch nicht viel, junger Mann.«

»Es ist ein Notfall. Ich werde erwartet.«

»Ego te absolvo«, rezitierte er feierlich, als spräche er einen Segen.Ich lief die Treppen hinauf. Dabei überlegte ich mir mit einigen Zweifeln meine Möglichkeiten. Mit viel Glück würde mir eines der Dienstmädchen öffnen, dessen Sperre ich rücksichtslos zu durchbrechen gedachte. Mit weniger Glück machte mir zu dieser Stunde vielleicht Beas Vater auf. Ich vermutete, im vertrauten Familienrahmen wäre er unbewaffnet, wenigstens vor dem Frühstück. Vor dem Anklopfen blieb ich einige Augenblicke stehen, um Atem zu schöpfen und mir einige Worte zurechtzulegen, die sich nicht einstellen wollten. Das hatte jetzt auch keine Bedeutung mehr. Dreimal ließ ich kräftig den Klopfer auf die Tür fallen. Nach fünfzehn Sekunden wiederholte ich das Ganze und dann noch einmal, ohne mich um den kalten Schweiß auf der Stirn und mein laut pochendes Herz zu kümmern. Als die Tür aufging, hielt ich noch immer den Klopfer in der Hand.

»Was willst du?« Die Augen meines alten Freundes Tomás durchbohrten mich kalt.

»Ich komme zu Bea. Du kannst mir den Schädel einschlagen, wenn du willst, aber ich werde nicht eher gehen, als bis ich mit ihr gesprochen habe.«

Tomás schaute mich unverwandt an. Ich fragte mich, ob er mich wohl gleich an Ort und Stelle halbieren werde, und schluckte.

»Meine Schwester ist nicht da.«

»Tomás…«

»Bea ist weggegangen.«

In seiner Stimme lagen Mutlosigkeit und Schmerz, die er mit Wut nur schlecht übertönen konnte.

»Sie ist weggegangen? Wohin denn?«

»Ich hoffte, du wüßtest es.«

»Ich?«

Ich ignorierte seine geballten Fäuste und das drohende Gesicht und drückte mich in die Wohnung hinein.

»Bea?« rief ich.

»Bea, ich bin’s, Daniel…«

Mitten auf dem Flur blieb ich stehen. Die Wohnung verschluckte das Echo meiner Stimme. Auf mein Geschrei eilten weder Señor Aguilar noch seine Frau, noch die Bediensteten herbei.

»Es ist keiner da. Ich hab es dir schon gesagt«, hörte ich Tomás hinter mir sagen.

»Und jetzt hau ab und komm nicht wieder. Mein Vater hat geschworen, dich umzubringen, und ich werde ihn ganz sicher nicht daran hindern.«

»Um Himmels willen, Tomás, sag mir, wo deine Schwester ist.«

Er schaute mich an, als wüßte er nicht recht, ob er ausspucken oder mich einfach rauswerfen sollte.

»Bea ist von zu Hause weggegangen. Seit zwei Tagen suchen meine Eltern sie überall wie wahnsinnig — und die Polizei ebenfalls.«

»Aber…«

»Neulich abends, als sie nach dem Treffen mit dir zurückkam, hat mein Vater auf sie gewartet. Er hat sie geschlagen, bis ihr die Lippen platzten, aber du brauchst keine Angst zu haben, deinen Namen hat er nicht aus ihr herausgebracht. Du hast sie nicht verdient.«

»Tomás…«

»Halt den Mund. Am nächsten Tag sind meine Eltern mit ihr zum Arzt gegangen.«

»Wieso? Ist sie krank?«

»Krank von dir, du Schwachkopf. Meine Schwester ist keine Jungfrau mehr. Du mußt es ja am besten wissen.«

Ich spürte, wie meine Lippen zitterten. Eiseskälte überzog mich, die Stimme versagte mir. Ich schleppte mich zum Ausgang, doch Tomás packte mich am Arm und schleuderte mich an die Wand.

»Was hast du mit ihr gemacht?«

»Tomás, ich…«

Der erste Hieb verschlug mir den Atem. Mit dem Rücken an der Wand sackte ich in die Knie. Ein eiserner Griff packte mich um den Hals und zog mich hoch, an die Wand genagelt.

»Was hast du mir ihr gemacht, du Mistkerl?« Mit einem Faustschlag ins Gesicht schleuderte mich Tomás zu Boden. Dann packte er mich am Mantelkragen, schleifte mich zur Tür hinaus und warf mich wie ein Stück Dreck die Treppe hinunter.

»Wenn Bea etwas zugestoßen ist, dann schwöre ich dir, daß ich dich umbringe«, sagte er auf der Schwelle.Ich rappelte mich auf, hoffte etwas erwidern zu können. Doch die Tür fiel ins Schloß und ließ mich im Dunkeln zurück. Ein Stich im linken Ohr durchbohrte mich, und ich wand mich vor Schmerz. Ich ertastete lauwarmes Blut. So gut es ging, stand ich auf. Die Bauchmuskeln, die den ersten Schlag eingesteckt hatten, brannten in einem Krampf, der erst jetzt einsetzte. Ich rutschte die Treppen hinunter. Als Don Saturno mich erblickte, schüttelte er den Kopf.

»Ach du liebe Güte, kommen Sie einen Moment rein, bis Sie wieder auf den Beinen sind…« Ich schüttelte den Kopf und hielt mir den Magen. Die linke Seite des Kopfes pulsierte, als wollte sich das Fleisch von den Knochen lösen.

»Sie bluten ja«, sagte Don Saturno.

»Das ist nicht das erste Mal.«

»Machen Sie nur so weiter, dann werden Sie bald nichts mehr zu bluten haben. Na, kommen Sie rein, und ich rufe einen Arzt, tun Sie mir den Gefallen.« Es gelang mir, den Ausgang zu erreichen und mich von der Gutwilligkeit des Pförtners zu befreien. Jetzt schneite es kräftig, die Gehwege waren weiß verschleiert. Der eisige Wind drang durch meine Kleider und leckte mir die blutende Wunde im Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich vor Schmerz, Wut oder Angst weinte. Gleichgültig verwischte der Schnee meine feigen Tränen, und ich ging langsam im pulvrigen Morgen davon.

2

Kurz vor der Kreuzung mit der Calle Balmes bemerkte ich, daß mir dicht am Gehweg ein Auto folgte. Die Kopfschmerzen waren einem Schwindelgefühl gewichen, das mich taumeln und an den Hausmauern Halt suchen ließ. Der Wagen hielt, und zwei Männer stiegen aus. Ein grelles Pfeifen dröhnte mir in den Ohren, so daß ich weder den Motor noch die Zurufe der zwei schwarzen Gestalten hören konnte, die mich von beiden Seiten faßten und eilig zum Auto schleppten. Völlig benommen vor Übelkeit, fiel ich auf den Rücksitz. Das Licht ging und kam wie blendend helle Ebbe und Flut. Ich spürte, daß sich der Wagen in Bewegung setzte. Zwei Hände tasteten mir Gesicht, Kopf und Rippen ab. Eine der Gestalten entdeckte Nuria Monforts in meinem Mantel verstecktes Manuskript und nahm es an sich. Mit Gelatinearmen wollte ich sie daran hindern. Die andere Gestalt beugte sich über mich. Offensichtlich sprach sie mit mir, denn ich fühlte ihren Atem im Gesicht. Ich erwartete Fumeros fahle Züge aufleuchten zu sehen und die Schneide seines Messers am Hals zu spüren. Ein Blick verfing sich in meinem, und während ich das Bewußtsein verlor, erkannte ich Fermín Romero de Torres’ zahnloses, zugetanes Lächeln.