Ich erwachte so schweißgebadet, daß es mich auf der Haut brannte. Zwei Hände stützten mich kräftig an den Schultern und betteten mich dann auf eine Pritsche, die mir wie bei einer Totenwache von Wachskerzen gesäumt schien. Rechts war Fermíns Gesicht zu sehen. Er lächelte, aber selbst in meinem Zustand bemerkte ich seine Unruhe. Neben ihm erkannte ich stehend Don Federico Flaviá, den Uhrmacher.
»Sieht aus, als kommt er wieder zu sich, Fermín«, sagte Don Federico.
»Was halten Sie davon, wenn ich ihm etwas Fleischbrühe koche, um ihn ins Leben zurückzuholen?«
»Schaden kann es nicht. Und wenn Sie schon dabei sind, könnten Sie mir doch ein Sandwich machen, mit etwas, was Sie gerade finden — bei dieser Aufregung habe ich einen gewaltigen Kohldampf bekommen.«
Vornehm zog sich Don Federico zurück und ließ uns allein.
»Wo sind wir, Fermín?«
»An einem sicheren Ort. Technisch ausgedrückt, befinden wir uns in einer kleinen Wohnung im linken Teil des Ensanche, die Freunden von Don Federico gehört, dem wir unser Leben und mehr zu verdanken haben. Böse Zungen würden es als Absteige bezeichnen, aber für uns ist es ein Heiligtum.«
Ich versuchte mich aufzurichten. Der Schmerz im Ohr äußerte sich jetzt als brennendes Pulsieren.
»Werde ich taub bleiben?«
»Ob taub, weiß ich nicht, aber zum Deppen wären Sie beinahe geworden. Dieser Irre von Señor Aguilar hätte Ihnen um ein Haar das Hirn verflüssigt.«
»Das war nicht Señor Aguilar. Das war Tomás.«
»Tomás? Ihr Freund, der Erfinder?«
Ich nickte.
»Irgend etwas müssen Sie doch getan haben.«
»Bea ist von zu Hause weggegangen…«, setzte ich an.Fermín runzelte die Stirn.
»Weiter.«
»Sie ist schwanger.«
Er blickte mich verdutzt an. Ausnahmsweise war sein Ausdruck undurchdringlich und ernst.
»Schauen Sie mich nicht so an, Fermín, um Gottes willen.«
»Was soll ich denn sonst tun? Zigarren verteilen?«
Ich versuchte aufzustehen, aber der Schmerz und Fermíns Hände hielten mich zurück.
»Ich muß sie finden, Fermín.«
»Still gelegen. Sie sind nicht in der Lage, irgendwo hinzugehen. Sagen Sie mir, wo das Mädchen ist, und ich werde sie holen.«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Ich muß Sie bitten, sich etwas spezifischer auszudrücken.«
In der Tür erschien Don Federico mit einer Tasse dampfender Fleischbrühe und lächelte mir herzlich zu.
»Wie fühlst du dich, Daniel?«
»Viel besser, danke, Don Federico.«
»Nimm zwei von diesen Tabletten mit der Brühe.«
Er wechselte einen raschen Blick mit Fermín, der nickte.
»Sie sind gegen die Schmerzen.«
Ich schluckte die Tabletten und schlürfte die Brühe, die nach Sherry schmeckte. Don Federico, ein Ausbund an Diskretion, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Da bemerkte ich, daß auf Fermíns Schoß Nuria Monforts Manuskript lag. Der auf dem Nachttisch tickende Wecker zeigte ein Uhr — nachmittags, wie ich annahm.
»Schneit es noch?«
»Schneien ist reichlich untertrieben. Das ist eine Sintflut in Pulverform.«
»Haben Sie es schon gelesen?« fragte ich.Er nickte nur.
»Ich muß Bea finden, bevor es zu spät ist. Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.«
Ich schob Fermíns Arme weg, setzte mich auf dem Bett auf und sah mich um. Die Wände wogten wie Algen unter der Wasseroberfläche eines Teichs. Die Decke entfernte sich in einem Hauch. Ich vermochte mich kaum aufrecht zu halten. Mühelos drückte mich Fermín wieder aufs Bett nieder.
»Sie gehen gar nirgends hin, Daniel.«
»Was waren das für Pillen?«
»Morpheustinktur. Sie werden schlafen wie Granit.«
»Nein, jetzt kann ich nicht…«
Ich stammelte weiter, bis meine Lider — und die Welt — unaufhaltsam zusammenfielen. Das war ein schwarzer, leerer, tunnelhafter Schlaf.
Die Dämmerung lauerte schon, als das Bleigewicht dieser Lethargie schwand, und ich öffnete die Augen in ein dunkles, von zwei müde auf dem Nachttisch flackernden Kerzen bewachtes Zimmer hinein. Erschöpft schnarchte Fermín im Sessel in der Ecke mit der Verve eines dreimal größeren Mannes. Um seine Füße ergoß sich Nuria Monforts Manuskript. Die Kopfschmerzen waren zu einem langsamen, lauen Pochen geschwunden. Leise schlich ich mich zur Tür und gelangte in ein kleines Wohnzimmer mit Balkon und einer Tür, die aufs Treppenhaus hinauszuführen schien. Mein Mantel und meine Schuhe waren auf einem Stuhl deponiert. Ein von irisierenden Reflexen gesprenkeltes Licht drang durchs Fenster herein. Ich trat an die Balkontür und sah, daß es weiterhin schneite. Die Dächer halb Barcelonas waren weiß gefleckt. In der Ferne erkannte man die Türme der Industrieschule, Nadeln im letzten Tageslicht. Die Scheibe war mit Reif überzogen. Mit dem Zeigefinger schrieb ich darauf:
Hole Bea. Folgen Sie mir nicht. Bin bald zurück.
Beim Erwachen hatte mich Gewißheit befallen, als hätte mir ein Unbekannter im Traum die Wahrheit zugeflüstert. Ich trat auf den Treppenabsatz hinaus und stürzte zur Haustür hinunter. Die Calle Urgel war ein weißer Strom, dem Straßenlaternen, Bäume und Mäste entwuchsen. Der Wind verspuckte stoßweise Schnee. Ich ging zur UBahnstation Hospital Clínico und tauchte in die Tunnels aus Dampf und verbrauchter Wärme. Horden von Barcelonesen, die den Schnee anschauten, als wär’s ein Wunder, unterhielten sich noch immer über diesen Schneesturm. Die Abendzeitungen brachten die Meldung auf der ersten Seite, mit Fotos von den verschneiten Ramblas und dem in Stalaktiten erstarrten CanaletasBrunnen. Der Jahrhundertschnee, verhießen die Schlagzeilen. Ich ließ mich auf eine Bank auf dem Bahnsteig fallen und atmete die Tunnelluft und den Ruß ein, der dem Rumpeln der noch unsichtbaren Züge vorausgeht. Auf der andern Seite der Gleise sah man auf einem Werbeplakat für die Wonnen des Rummelplatzes auf dem Tibidabo die kirmeshaft beleuchtete Blaue Straßenbahn, und dahinter konnte man die Umrisse des Aldaya-Hauses erahnen. Ich fragte mich, ob Bea wohl dasselbe Bild gesehen und begriffen hatte, daß es keinen andern Ort gab, wo sie hingehen konnte.
3
Es war schon fast dunkel, als ich von den Treppen der UBahnstation ins Freie trat. Die menschenleere Avenida del Tibidabo zeichnete eine endlose Flucht von Zypressen und unter einer weißen Decke begrabenen Palästen. An ihrer Haltestelle erspähte ich die Blaue Straßenbahn, die Glocke des Schaffners durchschnitt den Wind. Ich beeilte mich und erreichte sie, als sie sich eben in Bewegung setzte. Der Schaffner, ein alter Bekannter, nahm leise murmelnd die Münzen entgegen. Ich setzte mich ins Innere, um mich vor Schnee und Kälte zu schützen. Langsam zogen die düsteren alten Häuser an den eisverschleierten Fenstern vorbei. Der Schaffner musterte mich mit der Mischung aus Argwohn und Dreistigkeit, die die Kälte auf seinem Gesicht festgefroren zu haben schien.