»Dann sag mir, wo Carax ist.« Ich versuchte zu stottern. Gemächlich zog er den Revolver zurück.
»Wo ist er?«
»Unten. In der Krypta.«
»Du führst mich. Du sollst dabeisein, wenn ich diesem Dreckskerl erzähle, wie Nuria Monfort geschrien hat, als ich ihr das Messer in die…«
Die Gestalt erschien aus dem Nichts. Über Fumeros Schulter spähend, glaubte ich eine Silhouette ohne Gesicht, aber mit glühendem Blick in absoluter Stille auf uns zugleiten zu sehen, als berührte sie kaum den Boden. Fumero las in meinen tränennassen Augen den Reflex, und wie in Zeitlupe geriet sein Gesicht aus den Fugen.Als er herumschnellte und in die ihn umhüllende Dunkelheit schoß, hatten zwei lederne Pranken bereits seinen Hals umklammert. Carax stieß mich weg und drückte Fumero an die Wand. Dessen Hand krampfte sich um den Revolver und versuchte ihn Carax unters Kinn zu setzen. Bevor er abdrücken konnte, packte ihn Carax am Handgelenk und hämmerte es mit aller Kraft ein ums andere Mal an die Wand, doch Fumero ließ die Waffe nicht los. Ein zweiter Schuß explodierte in der Dunkelheit, zerschellte an der Wand und riß ein Loch in die Holztäfelung. Funken und glühende Splitter besprengten Fumeros Gesicht. Der Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllte den Raum.Mit einem Ruck versuchte sich Fumero aus den Pranken zu befreien, die seinen Hals wie in einem Schraubstock hielten und seine Hand mit dem Revolver an die Wand drückten. Carax lockerte den Griff nicht. Fumero brüllte vor Wut und drehte den Kopf, bis er Carax in die Faust beißen konnte. Eine tierische Wut hatte ihn erfaßt. Ich hörte, wie seine fletschenden Zähne die tote Haut zerrissen, und sah Blut aus seinen Lippen rinnen. Da griff Carax, die Schmerzen ignorierend oder vielleicht gar nicht imstande, welche zu empfinden, nach dem Dolch, riß ihn aus der Wand und spießte mit einem einzigen Stoß das rechte Handgelenk Fumeros an die Wand. Der gab einen Schmerzensschrei von sich. Seine Hand öffnete sich spastisch, der Revolver fiel ihm zu Füßen. Mit einem Tritt schleuderte ihn Carax in die Dunkelheit.Der Schrecken dieser Szene war in wenigen Sekunden an meinen Augen vorbeigezogen. Ich war wie gelähmt, unfähig, zu handeln oder auch nur einen Gedanken zu fassen. Carax wandte sich mir zu und heftete seinen Blick auf mich. Als ich ihn anschaute, konnte ich seine von den Flammen ausgelöschten Gesichtszüge rekonstruieren, die ich mir so oft vorgestellt hatte, wenn ich Bilder sah oder alte Geschichten hörte.
»Bring Beatriz hier weg, Daniel. Sie weiß, was ihr zu tun habt. Trenne dich nicht von ihr. Laß sie dir nicht wegnehmen, von nichts und niemand. Behüte sie. Mehr als dein Leben.«
Ich wollte nicken, aber meine Augen wurden von Fumero angezogen, der mit dem Messer kämpfte, das in seinem Handgelenk steckte. Mit einem Ruck riß er es los, sackte in die Knie und hielt sich den verwundeten Arm, vom dem das Blut herabrann.
»Geh«, raunte Carax.
Geblendet vor Haß, schaute uns Fumero vom Boden herauf an, das blutige Messer in der linken Hand. Carax wandte sich ihm zu. Ich hörte eilige Schritte näher kommen — von den Schüssen alarmiert, war Palacios seinem Chef zu Hilfe geeilt. Noch bevor Carax Fumero das Messer entreißen konnte, stürmte Palacios mit erhobenem Revolver in die Bibliothek.
»Zurück«, rief er.
Er warf einen raschen Blick auf Fumero, der sich mit Mühe aufrichtete, und schaute danach uns an, zuerst mich und dann Carax. Ich bemerkte den Schrecken und den Zweifel in seinem Blick.
»Ich habe gesagt, zurück.«
Carax wich zurück. Palacios beobachtete uns kalt, während er zu entscheiden versuchte, wie die Situation in den Griff zu bekommen war. Seine Augen richteten sich auf mich.
»Du da, hau ab. Das hat nichts mit dir zu tun. Los.«
Ich zögerte einen Moment. Carax nickte.
»Hier geht gar keiner weg«, sagte Fumero schneidend.
»Palacios, geben Sie mir Ihren Revolver.« Palacios regte sich nicht.
»Palacios«, wiederholte Fumero, und streckte die blutende Hand fordernd nach der Waffe aus.
»Nein«, murmelte Palacios zwischen den Zähnen und blieb wie gelähmt stehen.Fumeros Augen füllten sich mit Verachtung und Zorn.
Mit einem jähen Sprung packte er Palacios’ Waffe und stieß ihn mit der Hand weg. Langsam hob er den Revolver. Seine Hand zitterte, der Revolver glänzte vor Blut. Carax wich Schritt um Schritt zurück, suchte die Dunkelheit, doch es gab keinen Ausweg, der Revolverlauf folgte ihm.Meine sämtlichen Muskeln spannten sich vor Wut, wie angezogen von Fumeros bleicher Fratze. Palacios schaute mich an und schüttelte den Kopf. Ich beachtete ihn nicht. Carax hatte sich schon aufgegeben, stand reglos mitten im Raum und wartete auf die Kugel. Fumero kam gar nicht dazu, mich zu sehen. Für ihn gab es nur Carax und diese blutende Hand um den Revolver. Mit einem Sprung stürzte ich mich auf ihn. Meine Füße hoben vom Boden ab und gewannen keinen Kontakt mehr mit ihm. Die Welt war in der Luft erstarrt. Der Knall erreichte mich wie aus der Ferne, Echo eines abziehenden Gewitters. Es gab keinen Schmerz, nur ein dumpfes Lohen, als hätte mich mit ungeheurer Wucht eine Metallstange getroffen und zwei Meter ins Leere geschleudert, um mich dann zu Boden zu werfen. Ich spürte den Fall nicht, hatte aber das Gefühl, die Wände strebten zusammen und die Decke stürze herab, um mich zu erdrücken.Eine Hand hielt meinen Nacken, und ich sah, wie sich Julián Carax’ Gesicht über mich beugte. Ich bemerkte das Entsetzen in seinem Blick. Ich sah, wie er mir die Hand auf die Brust legte, und fragte mich, was das für eine warme Flüssigkeit sein mochte, die ihm zwischen den Fingern hervorquoll. Und jetzt spürte ich das schreckliche Feuer, eine Glut, die mir das Innere aufzehrte. Ich wollte schreien, aber das lauwarme Blut erstickte jeden Laut. Neben mir erkannte ich Palacios’ von Gewissensbissen zerquältes Gesicht. Ich schaute auf, und da sah ich sie. Mit entsetztem Ausdruck, die zitternden Hände vor dem Mund, kam Bea langsam von der Bibliothekstür her näher. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Ich wollte sie warnen, doch eine beißende Kälte überzog mir Arme und Beine und bahnte sich einen Weg durch meinen Körper.Fumero lauerte hinter der Tür verborgen. Bea bemerkte ihn nicht. Als Carax aufschnellte und Bea sich alarmiert umdrehte, berührte der Revolver des Inspektors bereits ihre Stirn. Palacios stürzte sich auf ihn, um ihn zurückzuhalten. Er kam zu spät. Schon war Carax über ihm. Ich hörte wie aus weiter Ferne seinen Schrei, Beas Namen. Der Raum blitzte im Widerschein des Schusses auf. Die Kugel durchdrang Carax’ rechte Hand. Einen Wimpernschlag später fiel der Mann ohne Gesicht über Fumero her. Ich neigte mich zur Seite, um zu sehen, wie Bea unverletzt auf mich zustürzte. Ich suchte Carax mit den Augen, fand ihn aber nicht — eine andere Figur hatte seinen Platz eingenommen. Es war Laín Coubert, wie ich ihn vor vielen Jahren bei der Lektüre eines Buches zu fürchten gelernt hatte. Diesmal gruben sich Couberts Klauen in Fumeros Augen und schleiften ihn wie an Haken mit. Ich glaubte zu sehen, wie die Beine des Inspektors durch die Bibliothekstür schleiften, wie sein Körper zappelte, während Coubert ihn zur Tür zerrte, wie seine Knie auf der Marmortreppe aufschlugen und der Schnee ihm ins Gesicht stöberte, wie ihn der Mann ohne Gesicht am Hals packte, in die Luft hob und dem gefrorenen Brunnen entgegenschleuderte, wie die Dolchhand des Engels seine Brust aufspießte. Ich glaubte zu sehen, wie er seine verdammte Seele in Dampf und schwarzem Atem aushauchte, während die Augen wie Reif zersplitterten.
Jetzt sank ich in mich zusammen. Die Dunkelheit färbte sich mit weißem Licht, und Beas Gesicht zog sich in einen Tunnel aus Nebel zurück. Ich schloß die Augen und spürte ihre Hände auf meinem Gesicht und hörte, wie ihre leise Stimme Gott bat, mich nicht mitzunehmen, wie sie flüsterte, sie liebe mich und werde mich nicht gehen lassen, sie werde mich nicht gehen lassen. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mich in dieser Wolke von Licht und Kälte auflöste, daß mich ein seltsamer Frieden einlullte und den Schmerz und das eisige Feuer aus meinem Innern nahm. Ich sah mich selbst an Beas Hand durch die Straßen dieses verzauberten Barcelonas spazieren, beide schon fast Greise. Ich sah, wie mir mein Vater und Nuria Monfort weiße Rosen aufs Grab legten. Ich sah Fermín in den Armen der Bernarda weinen und sah meinen alten, für immer verstummten Freund Tomás. Ich sah sie, wie man aus einem zu schnell abfahrenden Zug Fremde sieht. Als hätte sich ein verlegter Zeitungsausschnitt in die Seiten eines Buches verirrt, erinnerte ich mich an das Gesicht meiner Mutter, das ich vor vielen Jahren verloren hatte. Ihr Licht war alles, was mich auf meinem Absinken begleitete.