»Man ist eben sentimental. Schauen Sie, Señor Fermín, dieses arme Kerlchen… Wollte nichts weiter, als daß ich ihn festhalte und streichle. Das bricht einem das Herz.« Wir steckten sie mit einem guten Trinkgeld in ein Taxi und peilten die menschenleere Calle Princesa an.
»Wir werden schlafen gehen müssen, wegen morgen«, sagte Fermín.
»Ich glaube nicht, daß ich kann.« Wir marschierten Richtung Barceloneta und gelangten, ohne es recht zu merken, auf dem Wellenbrecher immer weiter hinaus, bis zu unseren Füßen die ganze still leuchtende Stadt wie eine riesige Luftspiegelung aus dem Hafenwasser aufstieg. Wir setzten uns auf die Mole und gaben uns dieser Erscheinung hin. Zwanzig Meter von uns entfernt nahm eine reglose Karawane von Autos mit dunstblinden und zeitungsverhängten Fenstern ihren Anfang.
»Diese Stadt ist eine Hexe, wissen Sie, Daniel. Sie setzt sich einem auf der Haut fest und nimmt einem die Seele, ohne daß man es überhaupt merkt.«
»Sie reden wie die Rociíto, Fermín.«
»Lachen Sie nicht, Leute wie sie machen aus dieser beschissenen Welt einen besuchenswerten Ort.«
»Die Nutten?«
»Nein. Nutten sind wir früher oder später alle. Ich meine die Menschen mit gutem Herzen. Und schauen Sie mich nicht so an. Hochzeiten machen mich fertig.« Umfangen von dieser seltenen Ruhe, blieben wir dort sitzen und verfolgten die Reflexe auf dem Wasser. Nach einiger Zeit überzog die Dämmerung den Himmel mit Bernstein, und Barcelona wurde hell. In der Ferne hörte man die Glocken der Basilika Santa María del Mar, die jenseits des Hafens aus dem Dunst ragte.
»Glauben Sie, Carax ist immer noch da, irgendwo in der Stadt?«
»Fragen Sie mich etwas anderes.«
»Haben Sie die Ringe?« Fermín lächelte.
»Los, gehen wir. Man erwartet uns, Daniel. Das Leben erwartet uns.«
Sie war elfenbeinfarben gekleidet und trug die Welt in den Augen. Ich erinnere mich kaum an die Worte des Geistlichen noch an die hoffnungsfrohen Gesichter der Gäste, die an diesem Märzvormittag die Kirche füllten. Es bleibt mir allein die Berührung ihrer Lippen und, als ich die Augen öffnete, der geheime Schwur, den ich auf der Haut mitnahm und an den ich mich alle Tage meines Lebens erinnern werde.
Nachspiel
1966
Julián Carax beendet Der Schatten des Windes mit einem kurzen Überblick, in dem er die Schicksale seiner Figuren Jahre später skizziert. Seit jener weit zurückliegenden Nacht des Jahres 1945 habe ich viele Bücher gelesen, aber Carax’ letzter ist weiterhin mein Lieblingsroman. Heute, mit dreißig Jahren, glaube ich kaum, daß ich meine Meinung noch ändere.
Während ich auf dem Ladentisch der Buchhandlung diese Zeilen schreibe, beobachtet mich lächelnd mein Sohn Julián, der morgen zehn wird, und staunt ungläubig über diesen Stapel Blätter, der höher und höher wird. Wahrscheinlich ist er überzeugt, daß auch sein Vater von dieser Bücher- und Wörterkrankheit angesteckt ist. Julián hat die Augen und die Intelligenz seiner Mutter, und ich gefalle mir im Glauben, er besitze vielleicht meine Naivität. Mein Vater, der die Buchrücken nur noch schwer entziffern kann, obwohl er es nicht zugibt, ist oben in der Wohnung. Oft frage ich mich, ob er ein glücklicher Mann ist, ob er seinen Frieden hat, ob ihm unsere Gesellschaft hilft oder ob er in seinen Erinnerungen und in dieser Traurigkeit lebt, die ihn stets verfolgt hat. Jetzt führen Bea und ich die Buchhandlung. Ich bin für die Buchhaltung zuständig, und Bea macht den Einkauf und bedient die Kunden, die sie mir vorziehen, was ich ihnen nicht übelnehmen kann.
Die Zeit hat sie stark und weise gemacht. Sie spricht fast nie über die Vergangenheit, aber oft überrasche ich sie, wie sie in einem Schweigen versinkt, allein mit sich selbst. Julián betet seine Mutter an. Wenn ich sie so zusammen anschaue, weiß ich, daß ein unsichtbares Band sie eint, das ich kaum ansatzweise begreife. Aber ich bin es zufrieden, Teil ihrer Insel zu sein und mich glücklich zu wissen. Die Buchhandlung wirft gerade eben genug ab, um bescheiden leben zu können, und etwas anderes zu machen kann ich mir nicht vorstellen. Die Verkäufe gehen zwar mit jedem Jahr zurück, aber ich bin optimistisch und denke, was aufwärts geht, geht auch abwärts, und was abwärts geht, muß eines Tages wieder aufwärts gehen. Jeden Monat bekommen wir Angebote von Leuten, die die Buchhandlung kaufen und daraus irgendeinen schicken Laden machen wollen. Aber hier bringt man uns nicht weg, es sei denn mit den Füßen voran.
Fermín und die Bernarda heirateten 1958, und sie haben bereits vier Kinder, alle Jungen und mit der Nase und den Ohren des Vaters. Fermín und ich sehen uns weniger als früher, aber ab und zu wiederholen wir frühmorgens diesen Spaziergang auf dem Wellenbrecher und zimmern uns die Welt zurecht. Fermín hat die Stelle in der Buchhandlung schon vor Jahren aufgegeben und nach Isaac Monforts Tod dessen Ablösung im Friedhof der Vergessenen Bücher übernommen. Isaac liegt auf dem Montjuïc neben Nuria. Ich besuche sie oft. Wir unterhalten uns. Immer duften auf Nurias Grab frische Blumen.
Mein alter Freund Tomás Aguilar ist nach Deutschland gezogen, wo er als Ingenieur in einer Maschinenbaufirma arbeitet und Wunderdinge erfindet, die ich noch nie habe begreifen können. Manchmal schreibt er einen Brief, immer an seine Schwester Bea adressiert. Vor zwei Jahren hat er geheiratet; seine Tochter haben wir nie gesehen. Jedesmal schickt er Grüße für mich mit, aber ich weiß, daß ich ihn vor Jahren unwiederbringlich verloren habe. Ich denke oft, daß uns das Leben die Freunde der Kindheit aus Eigensinn wegnimmt, aber glauben tue ich es nicht immer.
Im Viertel geht alles seinen gewohnten Gang, aber es gibt Tage, an denen ich das Gefühl habe, das Licht wagt sich immer mehr vor, kommt nach Barcelona zurück, so, als ob wir es alle gemeinsam vertrieben hätten, es uns aber am Ende verziehen hätte. Don Anacleto hat seine Stelle als Gymnasiallehrer aufgegeben und widmet sich jetzt ausschließlich der erotischen Dichtung und seinen Zeitungskolumnen, die monumentaler sind denn je. Don Federico Flaviá und die Merceditas sind nach dem Tod der Mutter des Uhrmachers zusammengezogen und bilden ein wunderbares Paar, obwohl es nicht an Neidern fehlt, die sagen, die Katze lasse das Mausen nicht und ab und zu gehe Don Federico als Pharaonin herausstaffiert ein wenig fremd.
Don Gustavo Barceló hat seine Buchhandlung geschlossen und das Kapital an uns transferiert. Er sagte, er habe die Nase voll von der Zunft und wolle sich endlich neuen Herausforderungen stellen. Die erste und letzte war die Gründung eines Verlages zur Neuauflage von Julián Carax’ gesammelten Werken. Vom Eröffnungsband mit seinen ersten drei Romanen (die in einem Bündel Fahnenabzüge in einem Möbellager der Familie Cabestany gefunden wurden) wurden dreihundertzweiundvierzig Exemplare verkauft. Mittlerweile reist Don Gustavo in Gesellschaft distinguierter Damen durch Europa und verschickt Postkarten von Kathedralen.
Seine Nichte Clara heiratete den Bankier, aber die Verbindung dauerte nur ein knappes Jahr. Die Liste ihrer Liebhaber ist noch immer lang, nimmt aber Jahr für Jahr ab. Jetzt lebt sie allein in der Wohnung auf der Plaza Real und geht immer seltener aus. Eine Zeitlang habe ich sie besucht, mehr, weil Bea mich an ihre Einsamkeit erinnerte, als aus eigenem Antrieb. Mit den Jahren habe ich eine Bitterkeit in ihr wachsen sehen, die sie mit Ironie und Gleichgültigkeit zu kaschieren sucht. Manchmal denke ich, sie wartet noch immer darauf, daß dieser verzauberte fünfzehnjährige Daniel kommt, um sie anzubeten. Beas Gegenwart — die jeder andern Frau — vergiftet sie. Das letzte Mal, als ich sie sah, tastete sie ihr Gesicht nach Falten ab. Manchmal soll sie noch ihren alten Musiklehrer sehen, Adrián Neri, dessen Sinfonie weiterhin unvollendet bleibt und der anscheinend bei den Damen des Liceo-Kreises als Gigolo derart Karriere gemacht hat, daß ihm seine Schlafzimmerkunststücke den Spitznamen Die Zauberflöte eingetragen haben.