»Wegen einer solchen Frau verliert jeder den Verstand…« Ich rannte los, die Ramblas hinauf, einen einzigen Gedanken im Kopf: Clara.
Die Bernarda hatte gesagt, Barceló habe die Stadt geschäftehalber verlassen. Heute war ihr freier Tag, und diesen Abend pflegte sie bei ihrer Tante Reme und ihren Kusinen in San Adrián del Besós zu verbringen. Das bedeutete, daß Clara in der höhlenartigen Wohnung auf der Plaza Real allein war, und dieses gesichtslose Wesen lief mit seinen Drohungen und weiß Gott welchen Gedanken frei im Gewitter herum. Während ich unter dem Wolkenbruch zur Plaza Real hastete, ging mir die Vorstellung nicht aus dem Kopf, ich hätte Clara in Gefahr gebracht, als ich ihr Carax’ Buch schenkte. Naß bis auf die Knochen, erreichte ich den Platz und lief zu den Arkaden der Calle Fernando, um mich unterzustellen. Aus dem Augenwinkel glaubte ich schattenhafte Gestalten umherkriechen zu sehen. Bettler. Die Haustür war geschlossen. An meinem Bund suchte ich die Schlüssel, die mir Barceló gegeben hatte. Ich hatte die Ladenschlüssel, diejenigen zur Wohnung in der Calle Santa Ana und die zu Barcelós Wohnung mit. Einer der Bettler trat auf mich zu und flüsterte, ob ich ihn die Nacht nicht im Hausflur verbringen lassen wolle. Ehe er seinen Satz zu Ende bringen konnte, schloß ich die Tür.
Das Treppenhaus war ein Schacht voller Schatten. Zwischen den Türritzen drang der Schein der Blitze herein und ließ die Umrisse der Stufen aufleuchten. Ich tappte vorwärts und strauchelte über den ersten Tritt. Die Hand fest auf dem Geländer, stieg ich langsam die Treppe hinauf. Kurz darauf mündeten die Stufen in eine ebene Fläche, ich war auf dem Absatz des ersten Stocks angekommen. Ich tastete mich die kalte, abweisende Marmormauer entlang und fand die Schnitzereien der Eichentür und die Aluminiumklinken. Ich suchte das Schlüsselloch und steckte blind den Schlüssel hinein. Als die Wohnungstür aufging, blendete mich für einen Augenblick ein Streifen von blauer Helle, und ein warmer Luftzug strich mir über die Haut. Das Zimmer der Bernarda lag im hinteren Teil der Wohnung neben der Küche. Dorthin wandte ich mich zuerst, obwohl ich sicher war, daß sie nicht hier war. Ich klopfte an, und als ich keine Antwort bekam, öffnete ich die Tür. Es war ein einfaches Zimmer mit einem großen Bett, einem dunklen Schrank mit Rauchglasspiegeln und einer Kommode, auf der die Bernarda genügend Heiligen- und Marienbilder zusammengetragen hatte, um eine Kapelle einzuweihen. Ich schloß die Tür wieder und drehte mich um, und beinahe blieb mir das Herz stehen, als ich durch den Gang ein Dutzend glühende Augen auf mich zukommen sah. Barcelós Katzen kannten mich jedoch genau und duldeten meine Anwesenheit. Mit sanftem Miauen strichen sie mir um die Beine, und als sie sahen, daß meine regennassen Kleider nicht die erwünschte Wärme abgaben, wandten sie sich ab.
Claras Zimmer lag am andern Ende der Wohnung, neben der Bibliothek und dem Musikzimmer. Auf unhörbaren Pfoten folgten mir die Katzen erwartungsvoll durch den Gang. In diesem Halbdunkel, das ab und zu im Gewitterschein aufflackerte, kam mir Barcelós Wohnung wie eine unheilvolle Höhle vor, ganz anders als die, die ich als mein zweites Zuhause zu betrachten gelernt hatte. Ich gelangte zum hinteren, auf den Platz hinausführenden Teil der Wohnung. Dicht und undurchdringlich tat sich vor mir Barcelós Wintergarten auf. Ich drang in das Dickicht von Blättern und Ästen ein. Einen Moment bestürmte mich der Gedanke, wenn der gesichtslose Fremde in die Wohnung eingedrungen wäre, hätte er sich wahrscheinlich diesen Ort ausgesucht, um sich zu verstecken. Um auf mich zu warten. Fast glaubte ich den Geruch nach verbranntem Papier wahrzunehmen, den er von sich gegeben hatte, aber ich merkte, daß es ganz einfach Tabak war, was meine Nase aufgeschnappt hatte. Ein Anflug von Panik befiel mich. In dieser Wohnung rauchte niemand, und Barcelós immer erloschene Pfeife war reines Dekor.
Ich kam zum Musikzimmer, und der Widerschein eines Blitzes entzündete die in der Luft liegenden Rauchkringel. Ich ging durchs Musikzimmer hindurch und erreichte die Tür zur Bibliothek. Sie war zu. Als ich sie öffnete, bot mir die Helligkeit der verglasten Galerie, die die Privatbibliothek des Buchhändlers umgab, ein warmes Willkommen. Die von zum Bersten gefüllten Regalen verdeckten Wände bildeten ein Oval, in dessen Mitte ein Lesetisch und zwei drehbare Ledersessel standen. Ich wußte, daß Clara Carax’ Buch in einer Vitrine neben dem Halbrund der verglasten Galerie verwahrte. Leise schlich ich dorthin. Mein Plan war es, das Buch an mich zu nehmen, von hier wegzubringen, diesem Verrückten zu übergeben und es dann ein für allemal aus den Augen zu verlieren.
Zuhinterst in einem Regal war der Rücken von Julián Carax’ Buch zu sehen; es erwartete mich wie immer. Ich ergriff es und drückte es an die Brust, als umarmte ich einen alten Freund, den ich gleich verraten würde. Ich wollte weg von hier, ohne daß Clara etwas von meiner Anwesenheit bemerkte. Ich würde das Buch mitnehmen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. Hastigen Schrittes verließ ich die Bibliothek. Am Ende des Ganges war die Tür zu Claras Zimmer zu erahnen. Ich stellte mir vor, wie sie schlafend auf ihrem Bett lag. Stellte mir vor, wie meine Finger ihren Hals streichelten und einen Körper erkundeten, den ich mir viele Nächte vorgestellt hatte. Ich wandte mich um, entschlossen, ein sechs Jahre währendes Hirngespinst aufzugeben, aber etwas hemmte meine Schritte, bevor ich das Musikzimmer erreichte. Eine pfeifende Stimme hinter mir, hinter der Tür. Eine tiefe Stimme, die gurrte und lachte. In Claras Zimmer. Langsam ging ich auf die Tür zu. Ich legte die Finger auf den Knauf. Sie zitterten. Ich war zu spät gekommen. Ich schluckte und öffnete die Tür.
3
Claras nackter Körper lag auf weißen, wie Seide glänzenden Laken. Maestro Neris Hände glitten über ihre Lippen, den Hals, die Brust. Ihre leer blickenden Augen waren an die Decke gerichtet. Dieselben Hände, die sechs Jahre zuvor in der Dunkelheit des Athenäums mein Gesicht gelesen hatten, umklammerten nun das schweißglänzende Gesäß des Maestro, bohrten ihm ihre Nägel in die Haut und führten ihn mit wilder Begierde in sich hinein. Ich spürte, daß ich keine Luft bekam. Ich muß wie gelähmt dort stehengeblieben sein und sie fast eine halbe Minute beobachtet haben, bis Neris anfänglich ungläubiger, dann wutentbrannter Blick auf mich fiel. Keuchend hielt er inne. Clara umschlang ihn, ohne etwas zu begreifen, rieb ihren Körper an seinem und leckte seinen Hals.
»Was ist denn? Warum hörst du auf?«
Adrián Neris Augen glühten vor Zorn.
»Nichts«, stieß er hervor.
»Bin gleich wieder da.«
Er stand auf und stürzte sich mit geballten Fäusten auf mich. Ich sah ihn nicht einmal kommen. Ich konnte die Augen nicht von der schweißgebadeten, atemlosen Clara, deren Rippen sich unter der Haut abzeichneten, und ihren sehnsüchtig bebenden Brüsten abwenden. Der Musiklehrer packte mich am Hals und schleifte mich aus dem Zimmer. Ich spürte, daß meine Füße kaum den Boden berührten, und sosehr ich auch zappelte, ich konnte mich nicht aus dem Klammergriff Neris befreien, der mich wie einen Sack Kartoffeln durch den Wintergarten trug.
»Dir werde ich den Schädel einschlagen, du Dreckskerl«, murmelte er zwischen den Zähnen.