Er schleppte mich zur Wohnungstür und riß sie auf, um mich auf den Treppenabsatz hinauszuschleudern. Carax’ Buch war mir aus den Händen gefallen. Er hob es auf und warf es mir zornig an den Kopf.
»Wenn ich dich hier noch einmal sehe oder erfahre, daß du dich auf der Straße an Clara rangemacht hast, dann schlage ich dich krankenhausreif, das schwör ich dir, und es ist mir schnurz, wie alt du bist. Kapiert?«
Mühsam richtete ich mich auf und stellte fest, daß Neri mir auch gleich das Jackett und den Stolz zerfetzt hatte.
»Wie bist du reingekommen?« Ich gab keine Antwort. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
»Los, her mit den Schlüsseln«, zischte er mit kaum verhaltener Wut.
»Welche Schlüssel?«
Seine Ohrfeige warf mich zu Boden. Mit blutendem Mund und einem grellen Sausen im linken Ohr stand ich wieder auf. Ich befühlte mein Gesicht und spürte unter den Fingern den Schnitt brennen, der mir die Lippen gespalten hatte. Am blutbeschmierten Ringfinger des Musiklehrers glänzte ein Siegelring.
»Die Schlüssel, hab ich gesagt.«
»Fahren Sie zur Hölle«, fauchte ich.Ich sah den Hieb nicht kommen, sondern hatte nur das Gefühl, ein Fallhammer habe mir den Magen herausgeschlagen. Ich klappte zusammen, unfähig zu atmen, und taumelte gegen die Wand. Neri riß mich an den Haaren hoch und wühlte in meinen Taschen herum, bis er die Schlüssel hatte. Ich sank zu Boden, hielt mir den Magen und wimmerte vor Schmerz oder Wut.
»Sagen Sie Clara, daß…«
Er schlug mir die Tür vor der Nase zu und ließ mich in vollkommener Dunkelheit liegen. Ich tastete nach dem Buch, und als ich es gefunden hatte, glitt ich die Wände entlang treppab. Blut spuckend und japsend erreichte ich die Straße. Kälte und Wind pappten mir schmerzhaft die nassen Kleider an den Leib. Der Schnitt im Gesicht brannte.
»Ist alles in Ordnung?« fragte eine Stimme im Schatten.
Es war der Bettler, dem ich kurz zuvor die Hilfe versagt hatte. Beschämt wich ich seinem Blick aus und nickte. Dann wollte ich loslaufen.
»Warten Sie doch einen Moment, wenigstens bis der Regen nachläßt.«
Er nahm mich am Arm und führte mich in eine Ecke unter den Arkaden, wo er ein Kleiderbündel und eine Tüte mit schmutziger alter Wäsche liegen hatte.
»Ich habe etwas Kognak. Er ist nicht schlecht. Trinken Sie ein bißchen. Das wird Ihnen helfen, sich aufzuwärmen. Und um das da zu desinfizieren…«
Ich trank einen Schluck aus der Flasche, die er mir reichte. Er schmeckte nach mit Essig veredeltem Terpentin, aber seine Wärme beruhigte Magen und Nerven. Einige Tropfen bespritzten meine Wunde, und in der schwärzesten Nacht meines Lebens sah ich Sterne.
»Gut, was?« Der Bettler lächelte.
»Los, nehmen Sie noch ein Schlückchen, das erweckt Tote zum Leben.«
»Nein, danke. Für Sie«, flüsterte ich.Er nahm einen großen Schluck. Ich betrachtete ihn aufmerksam. Er sah aus wie ein grauer Ministerialbuchhalter, der fünfzehn Jahre lang seinen Anzug nicht gewechselt hat. Er streckte mir seine Hand hin, und ich ergriff sie.
»Fermín Romero de Torres, Beamter im Wartedienst. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Daniel Sempere, Riesentrottel. Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«
»Verkaufen Sie sich nicht unter Ihrem Wert, in solchen Nächten sieht alles viel schlimmer aus, als es ist. Auch wenn Sie es nicht glauben werden, ich bin ein geborener Optimist. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß die Tage des Regimes gezählt sind. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Amerikaner demnächst bei uns einfallen und für Franco in Melilla einen Erdmandelstand aufstellen werden. Und ich werde meine Stelle, den Ruf und die verlorene Ehre wiedererlangen.«
»Was haben Sie denn beruflich gemacht?«
»Geheimdienst. Hochspionage. Ich kann nur so viel sagen, daß ich der Mann Francesc Maciàs in Havanna war, der unsere katalanische Republik gegründet hat.« Ich nickte. Noch ein Verrückter. Barcelonas Nacht sammelte sie scharenweise. Und Idioten wie mich ebenfalls.
»Hören Sie, dieser Schnitt sieht übel aus. Man hat Ihnen ordentlich das Fell gegerbt, was?« Ich führte die Finger zum Mund. Er blutete noch.
»Eine Weibergeschichte?« forschte Fermín Romero de Torres.
»Hätten Sie sich ersparen können. In diesem Land sind die Frauen, und das sage ich Ihnen, der ich mir die Welt angesehen habe, Frömmlerinnen und frigide. Genau so, wie ich es sage. Ich erinnere mich an eine kleine Mulattin, die ich in Kuba zurückgelassen habe. Eine andere Welt, verstehen Sie, eine andere Welt. Das karibische Weib schmiegt sich einem an den Körper, mit diesem Rhythmus der Inselbewohner, und säuselt einem zu: ›Ach, Liebster, gib mir Lust, gib mir Lust‹, und was ein richtiger Mann ist, mit Blut in den Adern — aber was soll ich Ihnen erzählen…«
Ich hatte den Eindruck, Fermín Romero de Torres, oder wie sein richtiger Name lauten mochte, sehnte sich nach dem Geplauder fast genauso wie nach einem heißen Bad, frischer Wäsche und einem Linsengericht mit Paprikawurst. Eine Weile ermunterte ich ihn zum Weitersprechen, während ich darauf wartete, daß meine Schmerzen nachließen. Ich mußte mich nicht allzusehr anstrengen, denn dieser Mann brauchte nur ab und zu ein Nicken zur rechten Zeit. Eben wollte er mir die Details eines geheimen Plans zur Entführung von Doña Carmen Polo de Franco erzählen, als ich sah, daß es nicht mehr so stark regnete und das Gewitter sich allmählich nordwärts zu verziehen schien.
»Es ist spät geworden für mich«, murmelte ich und richtete mich auf.Fermín Romero de Torres nickte etwas traurig und half mir auf, wobei er mir ein wenig den Staub von den nassen Kleidern klopfte.
»Ein andermal also«, sagte er resigniert.
»Der Mund ist mein Verderben. Ich fange an zu reden und… Hören Sie, das mit der Entführung, das bleibt aber unter uns, ja?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin verschwiegen wie ein Grab. Und danke für den Kognak.« Ich ging Richtung Ramblas davon. Beim Eingang zum Platz blieb ich stehen und schaute zur Wohnung der Barcelós zurück. Die Fenster waren noch immer dunkel, triefend vor Regen. Am liebsten hätte ich Clara gehaßt, aber ich war nicht fähig dazu. Richtig zu hassen ist ein Talent, das man erst mit den Jahren lernt.Ich schwor mir, sie nicht wiederzusehen, nie wieder ihren Namen zu erwähnen oder an die Zeit zurückzudenken, die ich bei ihr vertan hatte. Aber die Wut, die mich aus dem Haus getrieben hatte, war verflogen. Ich fürchtete, sie wäre am nächsten Tag zurück, mit frischer Erbitterung, und Eifersucht und Scham würden mich langsam verbrennen, sobald einmal die Teile all dessen, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, ineinanderpaßten. Es dauerte noch einige Stunden bis zum Morgengrauen, und ehe ich mit reinem Gewissen heimgehen konnte, hatte ich noch etwas zu erledigen.
Die Calle Arco del Teatro war noch dort, kaum eine Bresche im Halbdunkel. In der Mitte der Gasse hatte sich ein schwarzer Bach gebildet. Ich erkannte das alte Holztor und die barocke Fassade, wo mich mein Vater an einem Morgen vor sechs Jahren hingeführt hatte. Ich stieg die Stufen hinauf und schützte mich unter dem nach Urin und fauligem Holz muffelnden Torbogen vor dem Regen. Mehr denn je roch der Friedhof der Vergessenen Bücher nach Tod. Ich hatte nicht mehr gewußt, daß der Türklopfer aus dem Gesicht eines kleinen Teufels bestand. Ich packte ihn bei den Hörnern und klopfte dreimal an. Die Antwort war nur ein dumpfes Schweigen. Nach einer Weile klopfte ich abermals, sechs Schläge diesmal, lauter, bis mir die Faust schmerzte. Es vergingen weitere Minuten, und ich dachte schon, bestimmt sei niemand mehr da. Ich hockte mich vor der Tür nieder, zog Carax’ Buch aus dem Jackett hervor, schlug es auf und las erneut diesen ersten Satz, der mich Jahre zuvor gefangengenommen hatte.
In jenem Sommer regnete es Tag für Tag, und obwohl viele Leute sagten, es sei eine Strafe Gottes, da im Dorf neben der Kirche ein Kasino eröffnet worden war, wußte ich, daß es meine und allein meine Schuld war, denn ich hatte lügen gelernt und bewahrte auf den Lippen noch die letzten Worte meiner Mutter auf dem Totenbett: Ich habe den Mann nie geliebt, den ich geheiratet habe, sondern einen andern, von dem man mir gesagt hat, er sei im Krieg gefallen; such ihn und sag ihm, daß ich im Tod mit den Gedanken bei ihm war, denn er ist dein richtiger Vater.