»So eine Schande«, sagte er empört.
»Gehen Sie nicht gern ins Kino, Fermín?«
»Im Vertrauen gesagt, mich läßt diese siebte Kunst völlig kalt. Meiner Meinung nach ist das nichts weiter als Nahrung zur Verdummung der verrohten Plebs, schlimmer als Fußball oder Stierkämpfe. Der Cinematograph ist entstanden als eine Erfindung zur Unterhaltung der analphabetischen Massen, und fünfzig Jahre später hat sich daran nichts geändert.« Mit dem Tag, an dem Fermín Romero de Torres Carole Lombard entdeckte, schmolzen diese ganzen Vorbehalte dahin.
»Was für ein Busen, Jesus, Maria und Josef, was für ein Busen!« rief er wie besessen mitten in der Vorstellung.
»Das sind keine Brüste, das sind zwei Karavellen!«
»Halten Sie den Mund, Sie Ferkel, oder ich rufe auf der Stelle den Geschäftsführer«, zischte eine Stimme zwei Reihen hinter uns.
»Unerhört, so ein schamloser Kerl. Was für ein Land von Schweinen.«
»Sie sprechen besser leiser, Fermín«, riet ich.Fermín Romero de Torres hörte mich nicht. Er war dem sanften Wogen dieses mirakulösen Ausschnitts verfallen, mit verzücktem Lächeln und technicolorbesprenkelten Augen. Als wir später durch den Paseo de Gracia zurückspazierten, stellte ich fest, daß unser bibliographischer Detektiv immer noch wie in Trance war.
»Ich glaube, wir werden Ihnen eine Frau suchen müssen«, sagte ich.
»Eine Frau wird Ihr Leben verschönern, Sie werden schon sehen.« Fermín Romero de Torres seufzte, sein Geist spulte noch einmal die Wonnen des Wogens ab.
»Reden Sie aus Erfahrung, Daniel?« fragte er unschuldig.Ich lächelte nur, weil ich wußte, daß mich mein Vater schräg ansah.Nach diesem Tag ging Fermín Romero de Torres mit Vergnügen jeden Sonntag mit mir ins Kino. Mein Vater blieb lieber zu Hause, um zu lesen, aber Fermín ließ keine Vorstellung aus. Er kaufte einen Berg Schokoladenplätzchen und setzte sich in Reihe siebzehn, um sie zu verschlingen und auf den Starauftritt der jeweiligen Diva zu warten. Der Plot war ihm vollkommen egal, und er sprach unablässig, bis eine Dame mit ansehnlichen Attributen die Leinwand ausfüllte.
»Ich habe darüber nachgedacht, was Sie neulich gesagt haben, von wegen eine Frau für mich suchen«, sagte er.
»Vielleicht haben Sie recht. In der Pension gibt es einen neuen Mieter, einen ehemaligen Absolventen des Priesterseminars in Sevilla, sehr geistreich, und der bringt ab und zu imponierende Bienen mit nach Hause. Unglaublich, wie sich die Sippe verbessert hat. Ich weiß auch nicht, wie er es anstellt, denn viel macht der Junge nicht her, aber womöglich betäubt er sie mit Vaterunsern. Da sein Zimmer gleich nebenan liegt, höre ich alles, und nach dem zu schließen, was man mitkriegt, muß der Mönch ein Künstler sein. Was doch eine Uniform ausmacht. Wie gefallen denn Ihnen die Frauen, Daniel?«
»Ich verstehe nicht viel von Frauen, ehrlich gesagt.«
»Wirklich verstehen tut keiner was, nicht einmal Freud, nicht einmal sie selber, aber das ist wie bei der Elektrizität, man braucht nicht zu wissen, wie sie funktioniert, um eine gewischt zu kriegen. Na los, erzählen Sie schon. Wie gefallen sie Ihnen denn? Es sei mir verziehen, aber für mich muß eine Frau die Figur eines Vollblutweibes haben, damit man etwas zwischen die Finger kriegt, aber Sie sehen aus, als gefielen Ihnen die Mageren, und das ist ein Gesichtspunkt, den ich durchaus respektiere, nicht wahr, verstehen Sie mich nicht falsch.«
»Wenn ich aufrichtig sein soll, habe ich nicht viel Erfahrung mit Frauen. Eigentlich gar keine.« Fermín Romero de Torres schaute mich aufmerksam an, neugierig geworden angesichts dieser Offenbarung von Askese.
»Ich dachte, die Geschichte in jener Nacht, Sie wissen schon, der Keulenschlag…«
»Wenn alles so schmerzte wie eine Ohrfeige…« Fermín schien meine Gedanken zu lesen und lächelte solidarisch.
»Schauen Sie, ich will Sie nicht kränken, aber das Beste an den Frauen ist, sie zu entdecken. Nichts ist wie das erste Mal. Man weiß nicht, was das Leben ist, bis man zum ersten Mal eine Frau auszieht. Knopf um Knopf, als schälten Sie in einer Winternacht eine siedend heiße Kartoffel. Ahhh…« Wenige Sekunden später erschien Veronica Lake auf der Bildfläche, und Fermín geriet in eine andere Dimension. In einer Sequenz, wo sie Pause hatte, kündigte er an, er werde dem Stand mit Naschereien in der Eingangshalle einen Besuch abstatten, um seine Bestände aufzufüllen. Nach Monaten des Hungerleidens hatte mein Freund jeden Sinn fürs Maß verloren, doch da er ein guter Verbrenner war, schaffte er es trotzdem nicht, seine ausgemergelte Figur loszuwerden. Ich blieb allein, verfolgte das Geschehen auf der Leinwand aber kaum. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich hätte an Clara gedacht. Ich dachte nur an ihren Körper, der unter den Stößen des Musiklehrers zitterte und vor Schweiß und Lust glänzte. Mein Blick glitt von der Leinwand ab, und erst jetzt bemerkte ich den Zuschauer, der eben hereingekommen war. Ich sah seine Silhouette zur Mitte des Parketts gehen, sechs Reihen weiter vorn, und dort Platz nehmen. Die Kinos sind voll von einsamen Menschen, dachte ich. Wie ich.Ich versuchte, mich zu konzentrieren und den Handlungsfaden wiederzufinden. Der Verehrer, ein zynischer, aber gutherziger Detektiv, erklärte einer Nebenfigur, warum Frauen wie Veronica Lake das Verderben jedes richtigen Mannes seien und warum es trotzdem keine andere Möglichkeit gebe, als sie verzweifelt zu lieben und an ihrer Treulosigkeit zugrunde zu gehen. Fermín Romero de Torres, der allmählich zu einem sachkundigen Kritiker wurde, bezeichnete diese Art Geschichten als Märchen von der Gottesanbeterin. Seiner Meinung nach waren das nur frauenfeindliche Fantasien für Büroangestellte mit Verstopfungsproblemen und vor Langeweile verwelkte Frömmlerinnen, die davon träumten, sich ins Laster zu stürzen und das Leben einer verdorbenen Hure zu führen. Ich lächelte, als ich mir die Anmerkungen vorstellte, die mein Kritikerfreund von sich gegeben hätte, wäre er nicht zum Naschwerkstand gegangen. In weniger als einer Sekunde gefror mir das Lächeln. Der sechs Reihen weiter vorn sitzende Zuschauer hatte sich umgedreht und starrte mich an. Das Lichtbündel des Projektors bohrte sich durch das Dunkel im Saal, ein Anflug von flackerndem Licht, das gerade eben bunte Linien und Flecken zeichnete. Sogleich erkannte ich den Mann ohne Gesicht, Coubert. Sein lidloser Blick glänzte stählern. Im Dunkeln war sein lippenlos tückisches Lächeln zu ahnen. Ich spürte, wie sich mir kalte Finger ums Herz schlossen. Auf der Leinwand brüllte ein Posaunenchor los, es wurde geschossen und geschrien, dann wurde die Szene ausgeblendet. Für einen Augenblick versank das Parkett in vollkommene Dunkelheit, und ich hörte nichts als die Pulsschläge, die mir in den Schläfen hämmerten. Langsam wurde auf der Leinwand eine neue Szene hell, so daß sich die Schwärze des Saals in Schwaden blauen und purpurroten Halbdunkels auflöste. Der Mann ohne Gesicht war verschwunden. Ich wandte mich um und sah, wie sich eine Silhouette durch den Parterregang entfernte und Fermín Romero de Torres kreuzte, der von seinem Süßigkeitenfeldzug zurückkam. Er drängte sich in die Reihe herein und setzte sich wieder in seinen Sessel. Dann reichte er mir ein Schokoladenplätzchen und schaute mich ein wenig irritiert an.
»Daniel, Sie sind ja weiß wie ein Nonnenhintern. Geht es Ihnen nicht gut?« Ein Luftzug wischte durchs Parkett.
»Es riecht merkwürdig«, bemerkte Fermín Romero de Torres.
»Wie nach ranzigem Notarsfurz.«
»Nein. Es riecht nach verbranntem Papier.«
»Kommen Sie, nehmen Sie ein Lutschbonbon, das kuriert alles.«
»Ich mag nicht.«
»Dann behalten Sie es eben, man weiß nie, wann einem ein Lutschbonbon aus der Patsche helfen kann.« Ich steckte es in die Jackettasche und ließ mich durch den Rest des Films treiben, ohne Veronica Lake oder den Opfern ihrer fatalen Reize Beachtung zu schenken. Fermín Romero de Torres war im Film und in seinen Schokoladenplätzchen aufgegangen. Als nach der Vorstellung das Licht anging, glaubte ich aus einem schlechten Traum zu erwachen und hätte die Erscheinung dieses Mannes im Parkett am liebsten als Sinnestäuschung, als Trick der Erinnerung betrachtet, doch sein kurzer Blick im Dunkeln hatte genügt, um mir seine Botschaft zuzutragen. Er hatte weder mich noch unser Gespräch vergessen.