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»Sie haben meinen Sohn zu behandeln, als wäre er ein Dummkopf, ist das klar?« hatte ich ihn oft sagen hören. Die Lehrer versuchten es auf alle erdenklichen Weisen, selbst mit inständigem Bitten, doch Tomás pflegte ausschließlich Lateinisch mit ihnen zu sprechen, eine Sprache, die er so fließend wie der Papst und ohne zu stottern beherrschte. Über kurz oder lang legten die Hauslehrer ihr Amt nieder, aus Verzweiflung und weil sie fürchteten, der Junge sei besessen und behexe sie auf aramäisch mit Teufelsparolen. Señor Aguilars einzige Hoffnung war der Militärdienst, der aus seinem Sohn einen rechtschaffenen Menschen machen sollte.Tomás hatte eine Schwester, die um ein Jahr älter war als wir, Beatriz. Ihr hatte ich unsere Freundschaft zu verdanken, denn hätte ich an jenem weit zurückliegenden Nachmittag nicht gesehen, wie sie an der Hand ihres Vaters auf den Schulschluß wartete, so hätte ich mich nicht über sie lustig gemacht, mein Freund hätte mir nie eine Abreibung verpaßt, und er hätte niemals den Mut gehabt, mich anzusprechen. Bea Aguilar war das lebendige Abbild ihrer Mutter und der Augapfel ihres Vaters. Rothaarig und totenblaß, steckte sie immer in sündhaft teuren Seiden- oder luftigen Wollkleidern. Sie hatte die Figur eines Mannequins und schritt kerzengerade einher, selbstgefällig und wie die Prinzessin ihres eigenen Märchens. Ihre Augen waren grünblau, aber sie betonte immer wieder, sie seien smaragd- und saphirfarben. Obwohl — oder vielleicht gerade weil — sie Jahre bei den Theresianerinnen verbracht hatte, trank sie hinter dem Rücken ihres Vaters Anis im hohen Stielglas, trug Seidenstrümpfe der Marke La Perla Gris und schminkte sich wie die Filmvamps, die meinen Freund Fermín um den Schlaf brachten. Ich konnte sie nicht ausstehen, und sie erwiderte meine offene Feindseligkeit mit verächtlichen Blicken. Sie hatte einen Freund, der als Leutnant in Murcia Militärdienst leistete, einen herausgeputzten Falangisten namens Pablo Cascos Buendía, Sproß einer uralten Familie, die an den galicischen Rias zahllose Werften besaß. Leutnant Cascos Buendía, welcher dank eines in der Militärregierung sitzenden Onkels sein halbes Leben in Urlaub war, gab immer Sermone über die genetische und geistige Überlegenheit der spanischen Rasse und den unmittelbar bevorstehenden Verfall des bolschewistischen Reichs von sich.

»Marx ist tot«, sagte er feierlich.

»Genau seit dem Jahr 1883«, sagte ich.

»Halt bloß das Maul, du elender Wicht, sonst kriegst du eine geschmiert, daß du in der Rioja landest.« Mehr als einmal hatte ich Bea dabei ertappt, wie sie bei sich die Einfältigkeiten belächelte, die ihr Leutnantfreund zum besten gab. Dann blickte sie auf und betrachtete mich undurchdringlich. Ich lächelte ihr mit der matten Herzlichkeit von Feinden in unbestimmter Waffenruhe zu, schaute aber gleich wieder weg. Eher wäre ich gestorben, als es zuzugeben, aber im Grunde meines Wesens hatte ich Angst vor ihr.

3

Zu Beginn dieses Jahres beschlossen Tomás und Fermín Romero de Torres, ihre jeweilige Erfindungsgabe in einem neuen Projekt zu verschmelzen, das meinen Freund und mich ihrer Meinung nach vom Militärdienst befreien sollte. Besonders Fermín teilte Señor Aguilars Begeisterung für die Felderfahrung gar nicht.

»Der Militärdienst ist einzig dazu gut, den Anteil von Kaffern in der Bevölkerung auszumachen«, war seine Meinung.

»Und der läßt sich in den beiden ersten Wochen feststellen, dazu braucht es nicht zwei Jahre. Armee, Ehe, Kirche und Bankwesen: die vier apokalyptischen Reiter. Ja, ja, lachen Sie nur.«

An einem Oktoberabend, als wir im Laden Besuch von einer alten Freundin bekamen, sollte Fermín Romero de Torres’ anarchistisches Denken ins Wanken geraten. Mein Vater war nach Argentona gefahren, um den Wert einer Büchersammlung zu bestimmen, und würde erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Ich bediente im Laden die Kundschaft, während Fermín mit seinen gewohnten Seiltänzerkunststücken die Leiter hochgeklettert war und knapp eine Handbreit unter der Decke das oberste Buchregal ordnete. Kurz vor Ladenschluß, als die Sonne schon untergegangen war, sah ich hinter dem Ladentisch hervor die Gestalt der Bernarda vor dem Schaufenster. Sie war donnerstäglich gekleidet, da es ihr freier Tag war, und winkte mir zu. Bei ihrem bloßen Anblick leuchtete mir das Herz, und ich bedeutete ihr hereinzukommen.

»Oh, wie groß Sie geworden sind!« sagte sie auf der Schwelle.

»Man erkennt Sie kaum wieder… Sie sind ja schon ein Mann!«

Sie umarmte mich, verdrückte einige Tränchen und tätschelte mir Kopf, Schultern und Gesicht, um zu sehen, ob ich in ihrer Abwesenheit nicht zerbrochen sei.

»Sie werden vermißt bei uns, junger Herr«, sagte sie und senkte den Blick.

»Und ich habe dich vermißt, Bernarda. Komm, gib mir einen Kuß.« Sie küßte mich schüchtern, und ich drückte ihr zwei schmatzende Küsse auf jede Wange. Sie lachte. Ihren Augen sah ich an, daß sie eine Frage nach Clara erwartete, aber ich hatte nicht vor, sie zu stellen.

»Du bist sehr hübsch heute, und sehr elegant. Was führt dich zu uns?«

»Nun, eigentlich wollte ich Sie schon lange aufsuchen, aber Sie wissen ja, wie das so ist, und unsereins hat viel zu tun — Señor Barceló ist zwar sehr gelehrt, aber er ist wie ein Kind, und da muß man eben mit beiden Händen zupacken. Aber was mich herführt, nun, morgen hat meine Nichte Geburtstag, die in San Adrián, und ich möchte ihr ein Geschenk mitbringen. Ich habe gedacht, ich schenke ihr ein gutes Buch, mit viel Text und wenig Bildern, aber ich bin ja schwer von Begriff und verstehe nichts von…« Bevor ich antworten konnte, erzitterte der Laden mit großem Getöse, als aus der Höhe einige Bände von Blasco Ibáñez’ gesammelten Werken in die Tiefe sausten. Erschrocken schauten die Bernarda und ich hinauf. Wie ein Äffchen glitt Fermín die Leiter herab, ein listiges Lächeln im Gesicht, die Augen voll lüsterner Wonne.

»Bernarda, das ist…«

»Fermín Romero de Torres, bibliographischer Berater von Sempere und Sohn, mit untertänigster Empfehlung, Señora«, verkündete er, während er Bernardas Hand ergriff und nach allen Regeln der Kunst küßte.In Sekundenschnelle verfärbte sie sich zum Tomatenpaprika.

»Oh, Sie irren sich, ich und eine Señora…«

»Zum wenigsten Marquise«, unterbrach sie Fermín.

»Und ich muß es ja wissen, da ich die elegantesten Häuser der Avenida Pearson betrete. Erweisen Sie mir die Ehre, Sie zu unserer Abteilung Klassiker für Jugendliche und Kinder zu geleiten, wo ich wie von Gott gefügt ein Kompendium mit dem Besten von Emilio Salgari und die epische Erzählung Sandokar erblicke.«

»Ach, ich weiß nicht recht, Heiligengeschichten — da habe ich Bedenken, weil doch der Vater des Kindes ganz im Arbeiterbund aufgegangen ist, verstehen Sie?«

»Seien Sie unbesorgt, hier habe ich nichts weniger als Die geheimnisvolle Insel von Jules Verne, eine hochabenteuerliche Erzählung von großem erzieherischem Gehalt, von wegen der technologischen Fortschritte.«

»Wenn Sie meinen…« Schweigend folgte ich ihnen und stellte fest, daß sich Fermín vollkommen in sie vergafft hatte und die Bernarda über die Aufmerksamkeiten dieses Männchens staunte, das aussah wie eine billige Zigarre, das Mundwerk eines Schaustellers hatte und sie mit einem Feuer anschaute, das er sonst nur für Nestlé-Schokoladenpralinen aufbrachte.