Mit einem plötzlichen Ächzen gab die Tür nach, und aus dem Innern strömte verbrauchte, von muffiger Feuchtigkeit verpestete Luft. Ich stieß die Tür auf zu einem Korridor, der sich im Schwarzen verlor. Staubkringel hingen wie Hexenhaar von den Ecken an der Decke. Auf den gesprungenen Bodenfliesen lag eine Aschenschicht. Ich sah, daß Fußabdrücke in die Wohnung hineinführten.
»Heilige Muttergottes«, murmelte die Pförtnerin.
»Hier gibt’s mehr Scheiße als auf einer Hühnerleiter.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, geh ich schon mal allein hinein«, schlug ich vor.
»Das würde Ihnen so passen. Los, gehen Sie voran, ich folge Ihnen.« Wir schlossen die Tür hinter uns. Einen Augenblick lang, bis sich die Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, blieben wir an der Schwelle stehen. Ich hörte den nervösen Atem der Pförtnerin und roch ihren sauren Schweiß. Ich fühlte mich wie ein Grabschänder, das Herz von Habsucht zernagt.
»Hören Sie, was ist denn das für ein Geräusch?« fragte die Pförtnerin unruhig.Im Dunkeln hört man aufgeschrecktes Flügelschlagen. Am Ende des Korridors glaubte ich ein blasses Etwas flattern zu sehen.
»Tauben«, sagte ich.
»Sie müssen durch eine zerbrochene Fensterscheibe eingedrungen sein und hier genistet haben.«
»Also mich ekeln diese Mistvögel an. Was die sich zusammenscheißen.«
»Ganz ruhig, Doña Aurora, sie greifen nur an, wenn sie hungrig sind.« Wir gingen einige Schritte weiter bis zum Ende des Korridors und gelangten in ein Eßzimmer mit einem Balkon. Man erkannte die Konturen eines wackligen Tischs, auf dem ein fadenscheiniges Tischtuch lag. Darum herum standen vier Stühle und dahinter zwei schmutzverschleierte Vitrinen, die das Geschirr hüteten, eine Sammlung Gläser und ein Teeservice. In einer Ecke stand noch Madame Carax’ altes Klavier. Weiße und schwarze Tasten waren kaum mehr zu unterscheiden, und unter dem Staub verschwanden die Fugen. Vor der Balkontür bleichte ein Sessel mit abgeschabtem Behang vor sich hin. Daneben ein Kaffeetisch, auf dem eine Lesebrille und eine in helles Leder gebundene Bibel mit Goldschnitt lagen, wie sie damals zur Erstkommunion geschenkt wurden. Sie bewahrte noch das Lesezeichen, ein paar Fasern eines scharlachroten Bändels.
»Schauen Sie, auf diesem Sessel hat man den toten Alten gefunden. Der Arzt sagte, er hätte schon zwei Tage so dagesessen. Wie traurig, auf diese Weise zu sterben, einsam wie ein Hund. Dabei hat er es so gewollt, aber trotzdem, mir tut er leid.« Ich trat zu Señor Fortunys Totensessel. Neben der Bibel stand ein kleines Kästchen mit Schwarzweißfotos, alte Studioaufnahmen. Ich kniete nieder, um sie zu studieren, getraute mich aber kaum, sie zu berühren, doch die Neugier war stärker. Das erste Foto zeigte ein junges Paar mit einem Knaben, der nicht älter war als vier Jahre. Ich erkannte ihn an den Augen.
»Da haben Sie sie. Señor Fortuny als junger Mann und sie…«
»Hatte Julián keine Brüder oder Schwestern?« Seufzend zuckte die Pförtnerin die Schultern.
»Man hat gemunkelt, sie habe ein Kind verloren, nachdem der Mann sie wieder einmal geprügelt hatte, aber ich weiß nicht. Die Leute klatschen ja gern. Einmal hat Julián den Kindern, die im Haus wohnten, erzählt, er hätte eine Schwester, die könnte nur er sehen und die würde wie Dampf aus den Spiegeln kommen und beim Satan persönlich in einem Palast unter einem See wohnen. Meine Isabelita hatte einen ganzen Monat Alpträume. Also manchmal war dieser Junge wirklich krankhaft.« Ich warf einen Blick in die Küche. Die Scheibe eines kleinen Fensters zum Lichtschacht war zerbrochen, und auf der andern Seite hörte man das nervöse, feindselige Flattern der Tauben.
»Haben alle Wohnungen dieselbe Anordnung?« fragte ich.
»Diejenigen zur Straße hin, also jeweils die zweite Tür, ja, aber die hier ist etwas anders, weil sie eine Dachwohnung ist. Da haben sie die Küche und eine Waschküche, die auf den Lichtschacht hinausgehen. Auf dem Gang sind drei Zimmer und am Ende ein Bad. Wenn sie hübsch eingerichtet sind, machen sie was her, nicht wahr. Das hier gleicht dem meiner Isabelita, auch wenn’s jetzt wie ein Grab aussieht.«
»Wissen Sie, welches Juliáns Zimmer war?«
»Die erste Tür ist das Hauptschlafzimmer. Die zweite gehört zu einem kleineren Raum. Vielleicht der, denke ich.« Ich ging in den Gang hinein. Der Anstrich der Wände blätterte in Fetzen ab. Die Tür zum Bad am Ende des Flurs war angelehnt. Im Spiegel schaute mich ein Gesicht an. Es hätte meines oder das der Schwester sein können, die in den Spiegeln dieser Wohnung gelebt hatte. Ich versuchte die zweite Tür zu öffnen.
»Sie ist abgeschlossen«, sagte ich.Verdutzt schaute mich die Pförtnerin an.
»Diese Türen haben kein Schloß«, murmelte sie.
»Die da schon.«
»Dann hat es bestimmt der Alte anbringen lassen — in den andern Wohnungen…« Ich schaute auf den Boden und sah, daß die Fußspur im Staub zur geschlossenen Tür führte.
»Jemand ist in das Zimmer hineingegangen«, sagte ich.
»Erst kürzlich.«
»Machen Sie mir keine Angst.« Ich trat zur andern Tür. Sie hatte kein Schloß. Bei der leichtesten Berührung gab sie nach und glitt mit rostigem Knarren auf. In der Mitte stand ein ungemachtes altes Himmelbett. Die Laken waren gelb. Am Kopfende dominierte ein Kruzifix. Auf einer Kommode standen ein Spiegel, eine Schüssel und ein Krug und davor ein Stuhl. An der Wand ein halb offener Schrank. Ich ging um das Bett herum zu einem Nachttisch, auf dem unter einer Glasplatte Ahnenfotos, Totenzettel und Lotterielose festgeklemmt waren. Auf dem Tischchen eine hölzerne Musikdose und eine für immer um fünf Uhr zwanzig eingefrorene Taschenuhr. Ich versuchte die Musikdose aufzuziehen, aber nach sechs Tönen blieb die Melodie hängen. In der Schublade fand ich ein leeres Brillenetui, eine Nagelschere, ein Schnapsfläschchen und eine Medaille der Muttergottes von Lourdes. Sonst nichts.
»Irgendwo muß es doch einen Schlüssel für dieses Zimmer geben«, sagte ich.
»Der Verwalter wird ihn haben. Also ich würde sagen, wir gehen besser und…« Wieder schaute ich auf die Musikdose. Ich klappte den Deckel auf und fand einen vergoldeten Schlüssel, der den Mechanismus blockierte. Als ich ihn ergriff, glöckelte die Dose weiter.
»Das muß der Schlüssel sein«, sagte ich lächelnd.
»Hören Sie, wenn das Zimmer verschlossen war, dann wird es einen Grund haben. Und sei es nur aus Respekt gegenüber der Erinnerung an…«
»Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie in der Loge auf mich warten, Doña Aurora.«
»Sie sind ein Teufel. Los, machen Sie schon auf.«
3
Ein kalter Luftzug pfiff durchs Schlüsselloch und strich mir über die Finger, als ich den Schlüssel hineinsteckte. Doña Aurora schaute mich ängstlich an, als würden wir gleich den Opferstock der Kathedrale aufbrechen.
»Geht dieses Zimmer auf die Straße hinaus?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.
»Es hat ein kleines Fenster, ein Luftloch, das auf den Lichtschacht führt.«
Ich stieß die Tür auf. Eine finstere, undurchdringliche Höhle tat sich vor uns auf. Das Fenster zum Schacht war mit vergilbten Zeitungsseiten abgedeckt. Ich riß sie weg, und ein Strahl milchigen Lichts durchbohrte das Dunkel.
»Jesus, Maria und Josef«, murmelte die Pförtnerin neben mir.Das Zimmer ertrank in Kruzifixen. Zu Dutzenden hingen sie an Schnüren vom Balkenwerk und bedeckten an Nägeln die Wände. Man konnte sie in den Ecken erahnen, mit dem Messer in die Möbel geritzt, auf die Fliesen gekratzt, rot auf die Spiegel gemalt. Die Fußspuren, die zur Türschwelle führten, zeichneten im Staub einen Weg um ein bis auf den Sprungfederrahmen entblößtes Bett herum, nur noch ein Skelett aus Draht und wurmstichigem Holz. Unter dem Fenster zum Schacht war an der Wand eine Schreibkonsole befestigt, und darauf stand ein Trio von Metallkruzifixen. Ich öffnete sie vorsichtig. In den Fugen des Holzbalgs lag kein Staub, so daß ich annehmen durfte, daß sie vor nicht allzu langer Zeit geöffnet worden war. Sie hatte sechs Schubladen, deren Schlösser aufgebrochen worden waren. Ich untersuchte sie eine nach der andern. Leer.Dann kniete ich vor der Konsole nieder. Ich betastete die Kratzer im Holz und stellte mir Julián Carax’ Hände vor, die diese Kritzeleien und Hieroglyphen anbrachten, deren Sinn von der Zeit verweht worden war. Zuhinterst in der Konsole ließen sich ein Stoß Hefte und ein Behälter mit Bleistiften und Federn ausmachen. Ich ergriff eins der Hefte und blätterte es durch. Zeichnungen und einzelne Worte. Rechenübungen. Lose Sätze, Zitate aus Büchern, unvollendete Verse. Alle Hefte sahen sich gleich. Einige Zeichnungen wiederholten sich Seite um Seite mit unterschiedlichen Details. Eine männliche Gestalt fiel mir auf, die aus Flammen zu bestehen schien. Eine andere zeigte etwas wie einen Engel oder ein um ein Kreuz gerolltes Reptil. Man konnte Skizzen eines alten, wunderlich aussehenden Hauses erahnen, das mit festungsähnlichen Türmen und Kathedralbögen gefügt war. Der junge Carax offenbarte den kräftigen Strich eines instinktsicheren, recht talentierten Zeichners, obwohl sämtliche Bilder Skizzen geblieben waren.Eben wollte ich das letzte Heft unbesehen zurücklegen, da glitt etwas zwischen seinen Seiten heraus und fiel mir zu Füßen. Es war ein Foto, auf dem ich dasselbe junge Mädchen erkannte wie auf dem versengten, vor dem wunderlichen Haus aufgenommenen Bild. Sie posierte in einem üppig wuchernden Garten, und durch die Baumkronen hindurch erriet man die Form des Hauses, das ich eben auf den Skizzen des halbwüchsigen Carax gesehen hatte. Ich erkannte es sogleich — die Villa El Frare Blanc, Der weiße Mönch, in der Avenida del Tibidabo. Auf der Rückseite des Fotos standen die schlichten Worte: