In Liebe, Penélope
Ich steckte das Foto in die Tasche, schloß den Schreibtisch und lächelte der Pförtnerin zu.
»Gesehen?« fragte sie, begierig, hier zu verschwinden.
»Fast. Vorhin haben Sie mir erzählt, kurz nach Juliáns Abreise nach Paris sei ein Brief für ihn gekommen, aber sein Vater habe Ihnen gesagt, Sie sollen ihn wegwerfen.« Sie zögerte einen Augenblick, dann nickte sie.
»Den habe ich in die Kommodenschublade in der Diele gelegt, falls die Französin eines Tages zurückkäme. Dort wird er noch sein.« Wir gingen zur Kommode und zogen die oberste Schublade auf. Zwischen einer Sammlung von stehengebliebenen Uhren, Knöpfen und vor zwanzig Jahren außer Kurs gesetzten Münzen lag ein ockerfarbener Umschlag.
»Haben Sie ihn gelesen?«
»Ich bitte Sie, wofür halten Sie mich?«
»Seien Sie nicht beleidigt. Unter diesen Umständen wäre das das Natürlichste, wo Sie doch dachten, der arme Julián sei gestorben…« Sie zuckte die Achseln, senkte die Augen und zog sich zur Tür zurück. Diesen Moment nutzte ich, um den Brief in die Innentasche des Jacketts zu stecken und die Schublade wieder zuzuschieben.
»Sie dürfen nicht auf falsche Gedanken kommen«, sagte die Pförtnerin.
»Natürlich nicht. Was steht denn in dem Brief?«
»Es ist ein Liebesbrief. Wie im Radio, aber trauriger, viel trauriger, er klang wie echt. Beim Lesen hätte ich am liebsten geweint.«
»Sie haben ein goldenes Herz, Doña Aurora.«
»Und Sie sind ein Teufel.«
Gleich am selben Nachmittag, nachdem ich mich von Doña Aurora verabschiedet und ihr versprochen hatte, sie von meinen Nachforschungen über Julián Carax zu unterrichten, suchte ich den Liegenschaftenverwalter auf. Señor Molins hatte bessere Zeiten gesehen und schmorte jetzt in seinem schmierigen, in einem Hochparterre der Calle Floridablanca versteckten Büro vor sich hin. Er war ein heiterer, zufriedener Zeitgenosse, der an einer halb aufgerauchten Zigarre hing, welche seinem Schnurrbart zu entwachsen schien. Es ließ sich schwer sagen, ob er schlief oder wach war, sein Atem klang wie ein Schnarchen. Er hatte fettige, auf die Stirn geklatschte Haare und einen durchtriebenen Schweineblick. Sein Anzug hätte ihm auf dem Trödelmarkt Los Encantes keine zehn Peseten eingebracht, aber er kompensierte ihn mit einer Krawatte in schreienden Farben. Nach dem Aussehen des Büros zu schließen, wurden hier bestenfalls Spitzmäuse und Katakomben eines Barcelona vor der Restauration verwaltet.
»Wir sind im Umbau«, sagte Molins entschuldigend. Um das Eis zu brechen, ließ ich den Namen von Doña Aurora fallen, als wäre sie eine alte Freundin der Familie.
»Oh, die war als junges Mädchen sehr attraktiv, doch doch«, bemerkte Molins.
»Mit den Jahren ist sie ein wenig aus dem Leim gegangen — natürlich bin auch ich nicht mehr, was ich einmal war. Ob Sie es glauben oder nicht, in Ihrem Alter war ich ein Adonis. Die Mädchen gingen vor mir auf die Knie, damit ich Ihnen einen Gefallen tat, wenn nicht gar ein Kind machte. Aber die von heute taugen nichts. Na gut, was kann ich für Sie tun, junger Mann?« Ich tischte ihm eine mehr oder weniger plausible Geschichte über eine angebliche entfernte Verwandtschaft mit den Fortunys auf. Nach fünf Minuten Geschwätz schleppte sich Molins zu seinem Archiv und gab mir die Adresse des Anwalts, der sich um die Angelegenheiten von Sophie Carax, Juliáns Mutter, kümmerte.
»Also… José María Requejo. Calle León XIII 59. Aber die Korrespondenz schicken wir halbjährlich in ein Fach des Hauptpostamts in der Vía Layetana.«
»Kennen Sie Señor Requejo?«
»Ich habe bestimmt schon mit seiner Sekretärin telefoniert. Aber alle laufenden Angelegenheiten mit ihm werden postalisch abgewickelt, und das erledigt meine Sekretärin, die heute beim Friseur ist. Die heutigen Anwälte haben keine Zeit mehr für den förmlichen Umgang von einst. In diesem Beruf gibt es keine Gentlemen mehr.« Anscheinend gab es auch keine zuverlässigen Adressen mehr. Ein rascher Blick ins Straßenverzeichnis, das auf dem Schreibtisch des Verwalters lag, bestätigte meinen Verdacht: Die Hausnummer des mutmaßlichen Anwalts Requejo existierte nicht. Das teilte ich Señor Molins mit, der die Mitteilung wie einen Witz aufnahm.
»Donnerwetter«, lachte er.
»Na, was hab ich Ihnen gesagt? Alles Gauner.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab wieder einen Schnarcher von sich.
»Hätten Sie vielleicht die Nummer dieses Postfachs?«
»Laut Karteikarte ist es die 2837, aber ich kann die Zahlen meiner Sekretärin nicht entziffern, Sie wissen ja, für die Mathematik taugen Frauen nicht, dafür taugen sie für…«
»Darf ich die Karte sehen?«
»Aber sicher. Hier bitte.« Ich betrachtete sie. Die Zahlen waren absolut leserlich.Das Postfach trug die Nummer 2321…
»Haben Sie oft mit Señor Fortuny zu tun gehabt, als er noch lebte?« fragte ich.
»Nur obenhin. Ein sehr zurückhaltender Mann. Ich erinnere mich, daß ich ihn, nachdem ich erfahren hatte, daß die Französin gegangen war, einmal aufgefordert habe, mit ein paar Kollegen ins Bordell mitzukommen, in ein fabelhaftes Etablissement, das ich neben dem La Paloma kenne. Bloß damit er sich ein wenig aufheitern konnte, nichts weiter. Da hörte der doch tatsächlich auf, mit mir zu sprechen und mich auf der Straße zu grüßen, als wäre ich unsichtbar. Wie finden Sie das?«
»Ich bin ganz baff. Was können Sie mir sonst noch über die Familie Fortuny erzählen? Erinnern Sie sich gut an sie?«
»Das waren andere Zeiten. Jedenfalls habe ich schon den Großvater Fortuny gekannt, der den Hutladen gegründet hat. Was soll ich Ihnen vom Sohn erzählen? Aber sie, doch doch, sie war toll. Was für eine Frau. Und ehrbar, nicht wahr, trotz dem ganzen Gemunkel und Geschwätz…«
»Zum Beispiel, daß Julián nicht der eheliche Sohn Señor Fortunys war?«
»Wo haben Sie denn das aufgeschnappt?«
»Wie gesagt, ich gehöre zur Familie. Da erfährt man alles.«
»Von alldem ist nie etwas bewiesen worden.«
»Aber man hat darüber geredet.«