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»Los, Sie Schlaumeier, beeilen Sie sich, da haben Sie Ihre Nummer zweiunddreißig.« Ich sprang ab und hörte das Rattern der Straßenbahn im Dunst verklingen. Der Wohnsitz der Familie Aldaya lag auf der andern Seite der Kreuzung. Ein schmiedeeisernes Portal voller Efeu und Laub bewachte ihn. In die dicken Eisenstäbe eingelassen erriet man ein fest verriegeltes Türchen. Schwarze Eisenschlangen auf dem Gitter bildeten die Nummer zweiunddreißig. Ich versuchte hineinzusehen, aber man erkannte kaum einen finsteren Turm. Eine Rostspur rann aus dem Schlüsselloch des Türchens. Ich kniete nieder und versuchte auf diese Weise, in den Hof hineinzusehen. Aber als einziges erspähte ich büschelweise wilde Kräuter und die Umrisse von etwas, was mir wie ein Brunnen oder ein Teich erschien, aus dem eine ausgestreckte Hand zum Himmel emporzeigte. Erst nach einigen Augenblicken begriff ich, daß es eine Hand aus Stein war und daß es im Brunnen verborgen noch mehr Gliedmaßen und Formen gab, die ich nicht sehen konnte. Noch weiter entfernt erahnte man zwischen den Unkrautschleiern hindurch eine zersprungene, schutt- und laubbedeckte Marmortreppe. Glück und Glanz der Aldayas hatten sich vor langer Zeit gewendet. Dieser Ort war ein Grab.Ich trat ein paar Schritte zurück und ging um die Ecke, um einen Blick auf den Südflügel des Hauses zu werfen. Von hier aus sah man den einen Turm des kleinen Palastes deutlicher. In diesem Moment erblickte ich aus dem Augenwinkel die Gestalt eines hungrig aussehenden Mannes in blauem Arbeitskittel, der mit einem groben Besen das Laub auf dem Bürgersteig aufscheuchte. Er beobachtete mich ein wenig argwöhnisch, und ich vermutete in ihm den Pförtner eines der angrenzenden Anwesen. Ich lächelte ihm zu, wie es nur jemand kann, der viele Stunden hinter einem Ladentisch verbracht hat.

»Einen schönen guten Morgen«, sagte ich herzlich.

»Wissen Sie, ob das Haus der Aldayas schon lange verschlossen ist?« Das Männchen schaute mich an, als hätte ich eine Frage zur Quadratur des Kreises gestellt. Er nahm das Kinn in seine gelben Finger, die eine Schwäche für Celtas ohne Filter verrieten. Leider hatte ich keine Zigaretten bei mir, um mich bei ihm einzuschmeicheln, und so wühlte ich in den Taschen, um ihn mir mit etwas anderem geneigt zu machen.

»Mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre, und so soll es auch bleiben«, sagte der Pförtner in dem gequetschten, fügsamen Ton von Leuten, die zum Dienen geprügelt worden sind.

»Sind Sie schon lange hier?« Er nickte.

»Ich bin hier bei den Herrschaften Miravell seit Anno 20 angestellt.«

»Sie haben nicht vielleicht eine Ahnung, was aus der Familie Aldaya geworden ist, oder?«

»Nun, Sie wissen ja wohl, daß sie in der Zeit der Republik viel Geld verloren haben. Wer Zwietracht sät… Das wenige, das ich weiß, habe ich bei den Herrschaften Miravell aufgeschnappt, die früher mit der Familie befreundet waren. Ich glaube, der ältere Sohn, Jorge, ist ins Ausland gegangen, nach Argentinien. Offenbar hatten sie dort Fabriken. Leute mit sehr viel Geld. Die fallen immer wieder auf die Füße. Sie haben nicht vielleicht ein Zigarettchen?«

»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen ein Zitronenbonbon anbieten, das erwiesenermaßen genausoviel Nikotin hat wie eine Montecristo und dazu eine Unmenge Vitamine.« Ungläubig runzelte der Pförtner die Stirn, aber er nickte. Ich reichte ihm das Zitronenbonbon, das mir Fermín vor einer Ewigkeit gegeben und das ich im Futter meiner Tasche entdeckt hatte. Ich hoffte, es wäre noch nicht verdorben.

»Schmeckt gut«, urteilte der Pförtner, während er nach Kräften an dem gummigen Bonbon lutschte.

»Sie kauen den Stolz der nationalen Süßwarenindustrie. Der Generalissimus schluckt sie wie Zuckermandeln. Und sagen Sie, haben Sie je von der Aldaya-Tochter gehört, von Penélope?« Er stützte sich auf den Besen.

»Ich glaube, Sie irren sich. Die Aldayas hatten keine Töchter. Es waren alles Jungen.«

»Sind Sie da sicher? Ich weiß, daß damals, im Jahr 19, in diesem Haus ein junges Mädchen namens Penélope Aldaya gewohnt hat, wahrscheinlich die Schwester dieses Jorge.«

»Könnte schon sein, aber ich sag Ihnen ja, ich bin erst seit Anno 20 da.«

»Und wem gehört das Haus jetzt?«

»Soviel ich weiß, ist es noch zum Verkauf ausgeschrieben, obwohl man davon gesprochen hat, es abzureißen und eine Schule hinzusetzen. Das ist das Beste, was man tun kann, ehrlich. Es bis auf die Grundmauern niederreißen.«

»Warum meinen Sie?« Er schaute mich vertraulich an. Als er lächelte, sah ich, daß ihm oben mindestens vier Zähne fehlten.

»Diese Leute, die Aldayas. Die waren nicht ganz koscher, Sie wissen ja, was man so sagt.«

»Ich fürchte nein. Was sagt man denn so?«

»Sie wissen ja. Die Gerüchte und so. Ich glaube natürlich nicht an diese Märchen, nicht wahr, aber da drin soll sich mehr als einer in die Hosen gemacht haben.«

»Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, in dem Haus spukt’s.«

»Lachen Sie nur. Aber an jedem Gerücht ist was Wahres.«

»Haben Sie denn etwas gesehen?«

»Wirklich gesehen nicht. Aber gehört.«

»Gehört? Was denn?«

»Sehen Sie, einmal, vor Jahren, eines Nachts, als ich den Joanet begleitet habe, weil er doch darauf beharrt hat, verstehen Sie, ich hatte da ja nichts verloren… Ja, wie ich sagte, da hab ich was Merkwürdiges gehört. Wie ein Weinen.« Er imitierte das Geräusch. Es kam mir vor wie die Litanei eines Schwindsüchtigen, der ein Volksliedchen trällert.

»Das wird der Wind gewesen sein.«

»Wahrscheinlich, aber mir sind die Haare zu Berge gestanden, ehrlich. Hören Sie, Sie haben nicht vielleicht noch so ein kleines Lutscherchen, wie?«

»Wenn ich Ihnen eine Salmiakpastille anbieten darf — sie wirken stärkend nach dem Süßen.«

»Her damit.« Der Pförtner hielt mir die offene Hand entgegen.Ich gab ihm die ganze Schachtel. Die Lakritze schien ihm die Zunge noch ein wenig mehr für diese saftige Geschichte der Aldaya-Villa zu schmieren.

»Ganz unter uns, da gibt es ’ne Menge zu erzählen. Einmal, da hat der Joanet, der Sohn von Señor Miravell, der ein Brocken ist, zweimal so groß wie Sie — ich brauch Ihnen nur zu sagen, daß er in der HandballNationalmannschaft ist… Also einige Kumpel von Señorito Joanet hatten von dem Aldaya-Haus gehört und ihn breitgeschlagen. Und er mich, damit ich mit ihm gehe — zwar viel Geschwätz, aber dann doch kein Mumm, um allein hineinzugehen. Sie wissen ja, verwöhnte Söhnchen. Er wollte unbedingt in der Nacht da rein, um sich bei der Freundin als Held aufzuspielen, und fast hätte er in die Hose gepinkelt. Jetzt sehen Sie es ja bei Tag, aber nachts ist das ein ganz anderes Haus, verstehen Sie? Jedenfalls sagt der Joanet, er ist in den zweiten Stock hinaufgegangen, ich habe mich nämlich geweigert, da reinzugehen, nicht wahr, so was ist ja bestimmt nicht erlaubt, obwohl das Haus damals sicher schon zehn Jahre leer gestanden hat, und da sagt er, da ist was. Er hat so was wie eine Stimme in einem Zimmer zu hören geglaubt, und als er rein wollte, ist ihm die Tür vor der Nase zugefallen. Wie finden Sie das?«

»Ich finde, das war ein Luftzug.«

»Oder ein Zug von was anderem«, sagte er und senkte die Stimme.

»Neulich haben sie es im Radio gesagt: Die Welt ist voller Geheimnisse. Stellen Sie sich vor, jetzt haben sie offenbar das echte Schweißtuch Christi hier bei uns in Sardanyola gefunden. Es war auf die Leinwand eines Kinos genäht, um es vor den Arabern zu verstecken, die wollten es, damit sie sagen konnten, Jesus Christus wäre schwarz gewesen. Wie finden Sie das?«

»Mir fehlen die Worte.«

»Ich sag’s ja. Viele Geheimnisse. Dieses Haus müßte abgerissen und dann Kalk aufs Gelände gestreut werden.« Ich bedankte mich bei dem Alten für die Auskunft und begann die Avenida nach San Gervasio zurückzugehen. Als ich aufschaute, sah ich, wie der Tibidabo-Hügel zwischen Gazewolken erwachte. Auf einmal wäre ich am liebsten zur Zahnradbahn gegangen, um zum alten Rummelplatz hinaufzufahren und mich zwischen den Karussells und Automatensalons zu verirren, aber ich hatte versprochen, rechtzeitig in der Buchhandlung zu sein. Auf dem Rückweg zum U-Bahnhof stellte ich mir vor, wie Julián Carax dieselben feierlichen Fassaden bestaunte, die sich seit damals kaum verändert hatten mit ihren Treppen und Statuen, und wie er vielleicht auf die Blaue Straßenbahn gewartet hatte, die jetzt gleichsam auf Zehenspitzen zum Himmel hinauffuhr.