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»Quidprowas?«

»Latein, Junge. Es gibt keine toten Sprachen, nur abgestumpfte Geister. Umschrieben bedeutet das, daß ein Duro immer fünf und niemals vier Peseten hat, daß du mir aber sympathisch bist und ich dir einen Gefallen tun werde.« Mit der Beredsamkeit, die der Mann verströmte, war er imstande, die Fliegen im Fliegen zu vernichten, doch ich ahnte, daß ich mich, wollte ich etwas über Julián Carax herausfinden, besser in gutem Einvernehmen mit ihm befand. Ich lächelte ihn selig an, um mein Vergnügen an seinem Küchenlatein und seiner Redegewandtheit zu zeigen.

»Denk dran, morgen im Athenäum. Aber bring das Buch mit, sonst gibt’s keinen Handel.«

»Einverstanden.«

Langsam löste sich das Gespräch im Gebrabbel der andern Stammtischgäste auf, die über einige im Keller des Escorial gefundene Dokumente zu diskutieren begannen, welche die Möglichkeit andeuteten, daß Don Miguel de Cervantes nur das Pseudonym einer behaarten Matrone aus Toledo gewesen war. Barceló schien abwesend und beteiligte sich nicht an der spitzfindigen Debatte, sondern betrachtete mich mit verschleiertem Lächeln durch sein Monokel. Oder vielleicht schaute er auch nur das Buch an, das ich in Händen hielt.

2

Am Sonntag hingen die Wolken tief am Himmel, und die Straßen schmachteten unter einer hitzigen Dunstlagune, die die Thermometer an den Wänden zum Schwitzen brachte. Gegen Abend, als es noch um dreißig Grad war, zog ich mit meinem Buch unter dem Arm und einem Schweißvorhang auf der Stirn los, Richtung Calle Canuda und Athenäum zur Verabredung mit Barceló. Das Athenäum war — und ist — einer der vielen Winkel Barcelonas, wo das 19. Jahrhundert noch nichts von seiner Pensionierung mitbekommen hat. Die steinerne Vortreppe führte von einem höfischen Patio zu einem geisterhaften Netzwerk aus Galerien und Lesesälen empor, wohin neumodische Erfindungen wie Telefon, Eile oder Armbanduhr noch nicht vorgedrungen waren. Der Pförtner, oder vielleicht war es bloß eine Statue in Uniform, zuckte bei meinem Kommen kaum mit der Wimper. Ich glitt in den ersten Stock hinauf und pries die Flügel eines Ventilators, der inmitten von eingeschlummerten, auf ihren Büchern und Zeitungen wie Eiswürfel dahinschmelzenden Lesern schnurrte.

Don Gustavo Barcelós Silhouette zeichnete sich neben den Glastüren einer Galerie ab, die auf den Innengarten des Hauses führte. Trotz der fast tropischen Atmosphäre steckte der Buchhändler in seiner gewohnten Geckengala. Neben ihm erkannte ich eine Gestalt in einem weißen Mohairkleid, die mir wie ein in Nebel modellierter Engel erschien. Beim Echo meiner Schritte schloß Barceló halb die Augen und bedeutete mir mit einer Handbewegung, näher zu treten.

»Daniel, nicht wahr?« fragte er.

»Hast du das Buch mitgebracht?«

Ich nickte zweifach und setzte mich auf den Stuhl, den mir Barceló neben sich und seiner geheimnisvollen Begleiterin anbot. Mehrere Minuten lang lächelte er unbekümmert um meine Anwesenheit still vor sich hin. Bald gab ich jede Hoffnung auf, daß er mich der Dame in Weiß vorstellte, wer immer sie sein mochte. Er benahm sich, als ob sie nicht da wäre und keiner von uns beiden sie sehen könnte. Ich betrachtete sie verstohlen, voller Angst, ihrem Blick zu begegnen, der noch immer im Nirgendwo schwebte. Die Haut ihres Gesichts und der Arme war blaß, beinahe durchsichtig. Sie hatte feine Züge, die unter schwarzem, wie ein feuchter Stein glänzendem Haar mit kräftigem Strich gezeichnet waren. Ich schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre, aber etwas in ihrem Verhalten brachte mich auf den Gedanken, sie sei alterslos. Sie war wie in dem Zustand ewiger Jugend gefangen, der sonst den Schaufensterpuppen in piekfeinen Auslagen vorbehalten ist. Ich versuchte, unter ihrem Schwanenhals den Puls abzulesen, als ich bemerkte, daß mich Barceló aufmerksam beobachtete.

»Willst du mir jetzt also sagen, wo du dieses Buch herhast?« fragte er.

»Das würde ich schon, aber ich habe meinem Vater versprochen, das Geheimnis zu hüten.«

»Ich sehe schon — Sempere und seine Geheimnisse. Ich kann mir etwa vorstellen, wo. Da hast du ein Riesenschwein gehabt, mein Junge. Das nenne ich eine Stecknadel in einem Heuschober finden. Na, darf ich mal sehen?« Ich gab ihm das Buch, und Barceló ergriff es mit unendlicher Behutsamkeit.

»Ich nehme an, du hast es gelesen.«

»Jawohl.«

»Ich beneide dich. Ich habe immer gedacht, der richtige Zeitpunkt, um Carax zu lesen, ist, wenn man noch ein junges Herz und einen reinen Geist hat. Hast du gewußt, daß das der letzte Roman ist, den er geschrieben hat?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Weißt du, wie viele Exemplare davon auf dem Markt sind, Daniel?«

»Vermutlich Tausende.«

»Keines — außer deinem. Die übrigen wurden verbrannt.«

»Verbrannt?« Einmal mehr lächelte Barceló unergründlich, während er die Seiten durch die Finger gleiten ließ und das Papier streichelte, als bestünde es aus einer Seide, die es auf der Welt nur einmal gab. Langsam wandte sich die Dame in Weiß um. Ihre Lippen deuteten ein schüchternes, zitterndes Lächeln an. Ihre Augen ertasteten das Leere, marmorweiße Pupillen. Ich schluckte. Sie war blind.

»Du kennst meine Nichte Clara nicht, was?« fragte Barceló.Ich verneinte, unfähig, den Blick von diesem Geschöpf mit dem Porzellanpuppenteint und den weißen Augen abzuwenden, den traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.

»Im Grunde ist Clara die Expertin für Julián Carax, darum habe ich sie mitgebracht«, sagte Barceló.

»Ja, wenn ich’s mir richtig überlege, ziehe ich mich, glaube ich, mit eurer Erlaubnis in einen andern Raum zurück, um dieses Buch zu studieren, während ihr euch über eure Dinge unterhaltet. Ist euch das recht?« Verdutzt schaute ich ihn an. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, klopfte mir der Buchhändler, Gauner bis zum letzten Atemzug, leicht auf die Schulter und zog mit meinem Buch unterm Arm ab.

»Du hast ihn beeindruckt, weißt du«, sagte die Stimme hinter mir.Ich drehte mich um und sah, wie das leichte Lächeln von Barcelós Nichte im Leeren tastete. Sie hatte eine so zarte Kristallstimme, daß ich glaubte, ihre Worte würden zersplittern, wenn ich sie mitten im Satz unterbräche.

»Mein Onkel hat mir gesagt, daß er dir für Carax’ Buch eine ordentliche Summe angeboten hat, aber du hast sie abgelehnt. Du hast seinen Respekt gewonnen.«

»Schwer zu glauben«, seufzte ich.Ich stellte fest, daß Clara beim Lächeln den Kopf zur Seite neigte und ihre Finger mit einem Ring spielten, von dem es nur so blitzte.

»Wie alt bist du?« fragte sie.

»Fast elf. Und Sie?« Clara lachte über meine unverschämte Naivität.

»Fast doppelt so alt, aber das ist auch wieder nicht so alt, daß du mich zu siezen brauchst.«

»Sie sehen jünger aus«, bemerkte ich in der Ahnung, das könnte ein guter Ausweg aus meiner Indiskretion sein.

»Dann traue ich dir — ich weiß ja nicht, wie ich aussehe«, antwortete sie und lächelte weiter ihr halbes Lächeln.

»Aber wenn ich dir jünger vorkomme, ist das ein Grund mehr, daß du mich duzt.«

»Wie Sie meinen, Señorita Clara.« Aufmerksam betrachtete ich ihre wie Flügel auf dem Schoß ausgebreiteten Hände, ihre zarte, sich unter dem flauschigen Stoff abzeichnende Taille, die Linie ihrer Schultern, die außerordentliche Blässe ihres Halses und den Verschluß ihrer Lippen, die ich am liebsten mit den Fingerspitzen liebkost hätte. Nie zuvor hatte ich Gelegenheit gehabt, eine Frau von so nahe und so genau zu studieren, ohne befürchten zu müssen, ihrem Blick zu begegnen.

»Was guckst du?« fragte Clara nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit.

»Ihr Onkel sagt, Sie sind Expertin für Julián Carax«, improvisierte ich mit trockenem Mund.

»Mein Onkel wäre imstande, alles zu sagen, wenn er nur eine Weile mit einem Buch allein sein kann, das ihn fesselt. Aber du fragst dich gewiß, wie eine Blinde Expertin für Bücher sein kann, ohne lesen zu können.«