»Was wollen Sie?« fragte sie argwöhnisch.Ich spürte, daß ich meine Chance vertan hatte, wenn ich nicht auf der Stelle ihr Vertrauen gewann. Die einzige Karte, die ich ausspielen konnte, war, die Wahrheit zu sagen.
»Lassen Sie mich erklären. Vor acht Jahren habe ich mehr oder weniger zufällig im Friedhof der Vergessenen Bücher einen Roman von Julián Carax gefunden, den Sie dort versteckt hatten, damit ihn ein Mann, der sich als Laín Coubert ausgibt, nicht vernichten konnte.« Sie starrte mich an, reglos, als fürchtete sie, die Welt um sie herum bräche zusammen.
»Ich werde Ihnen nur ein paar wenige Minuten stehlen«, sagte ich schnell.
»Ich verspreche es Ihnen.« Sie nickte niedergeschlagen.
»Wie geht es meinem Vater?« fragte sie, meinem Blick ausweichend.
»Gut. Etwas älter mittlerweile. Er vermißt Sie sehr.«
»Sie kommen besser mit nach oben. Über diese Dinge mag ich nicht auf der Straße sprechen.«
6
Nuria Monfort lebte in Schatten. Ein schmaler Gang führte in ein Eßzimmer, das zugleich Küche, Bibliothek und Büro war. Im Vorbeigehen erkannte ich ein schlichtes fensterloses Schlafzimmer. Der Rest der Wohnung bestand aus einem winzigen Bad ohne Dusche und Waschbecken, wo alle möglichen Gerüche hereindrangen, vom Küchendunst der Kneipe unten bis zum Gestank der bald hundertjährigen Leitungen. Die Wohnung lag in ewigem Halbdunkel, dazu ein zwischen bröckelnden Hausmauern hängender finsterer Balkon. Es roch nach schwarzem Tabak, nach Kälte und Entbehrung. Nuria Monfort beobachtete mich, und ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie ärmlich ihre Wohnung war.
»Zum Lesen gehe ich auf die Straße hinunter, hier in der Wohnung gibt es kaum Licht«, sagte sie.
»Mein Mann hat mir eine Schreibtischlampe versprochen, wenn er wieder nach Hause kommt.«
»Ist Ihr Mann auf Reisen?«
»Miquel ist im Gefängnis.«
»Entschuldigen Sie, ich wußte nicht…«
»Sie haben es ja auch nicht wissen können. Ich schäme mich nicht, es zu sagen — mein Mann ist kein Verbrecher. Dieses letzte Mal haben sie ihn mitgenommen, weil er für die Metallarbeitergewerkschaft Flugblätter gedruckt hat. Das ist schon zwei Jahre her. Die Nachbarn glauben, er ist in Amerika, auf Reisen. Auch mein Vater weiß es nicht, und ich möchte nicht, daß er es erfährt.«
»Seien Sie unbesorgt. Von mir wird er es nicht erfahren.«
Ein gespanntes Schweigen trat ein; vermutlich sah sie in mir einen Spion von Isaac.
»Es ist bestimmt hart, die Wohnung allein zu tragen«, sagte ich ungeschickt, um die Leere zu füllen.
»Es ist nicht leicht. Ich versuche es, so gut ich kann, mit Übersetzungen, aber wenn man einen Mann im Gefängnis hat, reicht das nicht weit. Die Anwälte haben mich bluten lassen, und ich stecke bis zum Hals in Schulden. Übersetzen trägt fast so wenig ein wie Schreiben.« Sie schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort. Ich lächelte nur.
»Übersetzen Sie Bücher?«
»Nicht mehr. Jetzt habe ich mit Drucksachen, Verträgen und Zolldokumenten angefangen, das bringt viel mehr ein. Fürs Übersetzen von Literatur werden Hungerlöhne bezahlt, wenn auch etwas mehr als fürs Schreiben. Die Hausgemeinschaft hat mich schon zweimal hinauszuekeln versucht. Daß ich meinen Anteil an den Ausgaben der Gemeinschaft zu spät zahle, ist noch harmlos. Stellen Sie sich vor — Fremdsprachen beherrschen und überdies eine Hose tragen. Manch einer beschuldigt mich, in dieser Wohnung ein Bordell zu führen. Ach, dann sähe alles ganz anders aus…« Ich hoffte, im Halbdunkel sehe sie nicht, wie ich rot wurde.
»Entschuldigen Sie. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Jetzt bringe ich Sie auch noch zum Erröten.«
»Es ist meine Schuld. Ich habe gefragt.« Sie lachte nervös. Die von dieser Frau ausgehende Einsamkeit war schmerzlich.
»Sie gleichen ein wenig Julián«, sagte sie plötzlich.
»Wie Sie schauen und sich bewegen. Er hat es genauso gemacht. Er hat geschwiegen und mich angeschaut, ohne daß ich wissen konnte, was er dachte, und dann habe ich ihm wie ein Dummchen Dinge erzählt, die ich besser für mich behalten hätte… Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Milchkaffee?«
»Nein, danke. Machen Sie sich bitte keine Mühe.«
»Das ist keine Mühe. Ich wollte sowieso einen für mich machen.« Ich vermutete, dieser Milchkaffee war ihr ganzes Mittagessen, und lehnte die Einladung erneut ab. Sie ging in eine Ecke des Eßzimmers, wo sich eine elektrische Kochplatte befand.
»Machen Sie es sich bequem«, sagte sie und wandte mir den Rücken zu.Ich schaute mich um und fragte mich, wie. Nuria Monforts Arbeitsplatz bestand aus einem Schreibtisch, der die Ecke beim Balkon einnahm. Eine UnderwoodSchreibmaschine stand neben einer Petroleumlampe und unter einem Regal voller Wörterbücher und Nachschlagewerke. Es gab keine Familienfotos, aber die Wand vor dem Schreibtisch war mit Postkarten tapeziert, alles Bilder einer Brücke, die ich irgendwo gesehen zu haben glaubte, ohne sie identifizieren zu können, vielleicht Paris oder Rom. Vor diesem Wandschmuck strahlte der Schreibtisch eine fast zwanghafte Sauberkeit und Akkuratesse aus. Die Bleistifte waren gespitzt und perfekt aufgereiht, die Papiere und Mappen in drei symmetrischen Reihen angeordnet. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß mich Nuria Monfort von der Schwelle des Gangs aus beobachtete, schweigend, wie man auf der Straße oder in der U-Bahn Unbekannte anschaut. Sie steckte sich eine Zigarette an, ohne sich von der Stelle zu rühren, das Gesicht in blaue Rauchschwaden gehüllt. Unbewußt schien sie doch etwas von einer Femme fatale auszustrahlen, wie diese Frauen, die Fermín ganz verrückt machten, wenn sie im Kinonebel eines Berliner Bahnhofs in unwahrscheinlichem Licht auftauchten, und ich dachte, vielleicht habe sie ihr eigenes Aussehen satt.
»Es gibt nicht viel zu erzählen«, begann sie.
»Ich habe Julián vor über zwanzig Jahren in Paris kennengelernt. Damals habe ich für den Verlag Cabestany gearbeitet. Señor Cabestany hatte für einen Pappenstiel die Rechte an Juliáns Romanen gekauft. Zuerst hatte ich bei ihm im Büro gearbeitet, aber als er erfuhr, daß ich Französisch, Italienisch und ein wenig Deutsch konnte, hat er mich zu seiner persönlichen Sekretärin gemacht. Zu meinen Aufgaben gehörte es, die Korrespondenz mit ausländischen Autoren und Verlegern zu führen, mit denen der Verlag in Beziehung stand, und so bin ich auch mit Julián Carax in Verbindung getreten.«
»Ihr Vater hat mir erzählt, Sie beide seien gute Freunde gewesen.«
»Mein Vater hat Ihnen bestimmt gesagt, wir hätten ein Abenteuer gehabt oder so, nicht wahr? Er meint, ich hechele hinter jeder Hose her wie eine läufige Hündin.« Die Aufrichtigkeit und Unverfrorenheit dieser Frau benahm mir die Worte. Ich brauchte zu lange, um mir eine annehmbare Antwort zurechtzulegen. Nuria Monfort lächelte bereits und schüttelte den Kopf.
»Hören Sie nicht auf ihn. Mein Vater ist auf diese Idee gekommen, als ich im Jahr 33 nach Paris reisen mußte, um für Cabestany bei Gallimard ein paar Dinge zu regeln. Ich war eine Woche in der Stadt und wohnte bei Julián, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Cabestany die Hotelkosten sparen wollte. Da können Sie sehen, wie romantisch. Bis dahin war meine Beziehung zu Julián Carax eine rein briefliche gewesen, normalerweise ging es um Autorenrechte, Fahnenabzüge und editorische Fragen. Was ich von ihm wußte — oder mir vorstellte —, das hatte ich von der Lektüre der Manuskripte, die er uns schickte.«
»Hat er Ihnen etwas über sein Leben in Paris erzählt?«
»Nein. Julián hat nicht gern über seine Bücher oder sich selbst gesprochen. Er hat nicht gerade glücklich gewirkt in Paris, allerdings hatte ich den Eindruck, er gehörte zu den Menschen, die nirgends glücklich werden können. Im Grunde habe ich ihn nie ganz kennengelernt. Das hat er nicht zugelassen. Er war ein sehr zurückhaltender Mensch, und manchmal hatte ich das Gefühl, die Welt und die Leute interessierten ihn nicht mehr. Cabestany hat ihn für sehr schüchtern und ein wenig verrückt gehalten, aber ich hatte das Gefühl, er hat in der Vergangenheit gelebt, eingeschlossen in seinen Erinnerungen, ganz für sich, für seine Bücher und in ihnen drin, wie ein Luxusgefangener.«