»Sie sagen das, als beneideten Sie ihn.«
»Es gibt schlimmere Gefängnisse als Worte, Daniel.« Ich nickte, ohne genau zu wissen, was sie meinte.
»Hat Julián einmal über diese Erinnerungen gesprochen, über seine Jahre in Barcelona?«
»Sehr selten. In der Woche, in der ich in Paris bei ihm war, hat er mir ein wenig von seiner Familie erzählt. Seine Mutter war Französin, Musiklehrerin. Sein Vater hatte einen Hutladen oder so was. Ich weiß, daß er ein sehr frommer, sehr strenger Mann war.«
»Hat Ihnen Julián gesagt, was für eine Art Beziehung er zu ihm hatte?«
»Ich weiß, daß sie sich auf den Tod nicht ausstehen konnten. Das hatte seine Geschichte. Tatsächlich ging Julián nach Paris, damit ihn sein Vater nicht in die Armee stecken konnte. Seine Mutter hatte ihm versprochen, bevor es soweit komme, werde sie ihn weit weg von diesem Mann bringen.«
»Dieser Mann war immerhin sein Vater.« Nuria Monfort lächelte, ein angedeutetes Lächeln in den Mundwinkeln und mit einem traurigen, matten Glanz in den Augen.
»Selbst wenn er es gewesen wäre, er hat sich nie so benommen, und Julián hat ihn auch nie als das gesehen. Einmal hat er mir gestanden, seine Mutter habe vor der Heirat ein Abenteuer mit einem Unbekannten gehabt, dessen Namen sie nie habe preisgeben wollen. Dieser Mann war Juliáns richtiger Vater.«
»Das klingt wie der Beginn von Der Schatten des Windes. Glauben Sie, er hat Ihnen die Wahrheit gesagt?« Sie nickte.
»Julián hat mir erzählt, er sei damit groß geworden, wie der Hutmacher, so hat er ihn immer genannt, seine Mutter beschimpft und geschlagen hat. Dann kam er in Juliáns Zimmer, um ihm zu sagen, er sei ein Kind der Sünde, er habe den schwachen, elenden Charakter seiner Mutter geerbt und werde sein Leben lang ein Hungerleider sein und bei allem scheitern, was er in die Hand nehme…«
»Hat Julián Groll auf seinen Vater verspürt?«
»Mit der Zeit erkalten diese Dinge. Ich habe nie das Gefühl gehabt, Julián haßt ihn. Vielleicht wäre das besser gewesen. Mein Eindruck ist, daß er nach all diesen Szenen jeden Respekt vor dem Hutmacher verloren hatte. Er hat davon gesprochen, als ginge ihn das nichts mehr an, als gehörte es zu einer Vergangenheit, die er zurückgelassen hatte, aber so etwas vergißt man nie. Die Worte, die das Herz eines Kindes vergiften, sei es aus Gemeinheit oder Ignoranz, bleiben im Gedächtnis haften und verbrennen einem über kurz oder lang die Seele.« Ich fragte mich, ob sie aus eigener Erfahrung sprach, und wieder kam mir das Bild meines Freundes Tomás Aguilar in den Sinn, der sich stoisch die Tiraden seines edlen Papas anhörte.
»Wie alt war Julián damals?«
»Acht oder zehn Jahre, denke ich. Sobald er alt genug war, daß er in die Armee hätte eintreten können, hat ihn seine Mutter nach Paris mitgenommen. Ich glaube, sie haben nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Der Hutmacher hat nie verstanden, daß ihn seine Familie verlassen hat.«
»Haben Sie einmal gehört, daß Julián ein junges Mädchen namens Penélope erwähnte?«
»Penélope? Ich glaube nicht. Daran müßte ich mich erinnern.«
»Sie war eine Freundin von ihm, als er noch in Barcelona wohnte.« Ich zog das Foto von Carax und Penélope Aldaya aus der Tasche und gab es ihr. Ich sah, wie sie aufleuchtete, als sie den halbwüchsigen Julián erblickte. Die Nostalgie, der Verlust mußten an ihr nagen.
»Wie jung er da war… Ist das diese Penélope?« Ich nickte.
»Sehr hübsch. Julián wußte sich immer mit schönen Frauen zu umgeben.« Frauen wie Sie, dachte ich.
»Wissen Sie, ob er viele…« Wieder dieses Lächeln auf meine Kosten.
»Verlobte, Freundinnen hatte? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, ich habe nie etwas von einer Frau in seinem Leben gehört. Einmal wollte ich ihn reizen und habe ihn gefragt. Sie wissen ja, daß er sich seinen Lebensunterhalt mit Klavierspielen in einem Animierlokal verdient hat. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht in Versuchung komme, den ganzen Tag so von hübschen leichten Mädchen umgeben. Das fand er gar nicht lustig. Er sagte, er habe nicht das Recht, jemand zu lieben, er habe es verdient, allein zu sein.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Julián hat nie gesagt, warum.«
»Trotzdem wollte er am Ende heiraten, kurz vor seiner Rückkehr nach Barcelona im Jahr 1936.«
»Das hat es geheißen.«
»Sie bezweifeln es?« Sie zuckte die Schultern.
»Wie gesagt, in all den Jahren, die wir uns gekannt haben, hat Julián mir gegenüber nie eine Frau besonders erwähnt, erst recht nicht eine, die er heiraten wollte. Das mit der angeblichen Hochzeit ist mir erst später zu Ohren gekommen. Neuval, Carax’ letzter Verleger, hat Cabestany erzählt, die Verlobte sei zwanzig Jahre älter gewesen als Julián, eine vermögende, kranke Witwe. Laut Neuval hatte ihn diese Frau jahrelang mehr oder weniger ausgehalten. Die Ärzte gaben ihr noch sechs Monate, höchstens ein Jahr. Wie Neuval sagte, wollte sie Julián heiraten, damit er sie beerben könnte.«
»Aber die Hochzeit hat nie stattgefunden.«
»Falls es so einen Plan oder eine solche Witwe überhaupt je gegeben hat.«
»Soviel ich weiß, war Carax in ein Duell verwickelt, am frühen Morgen des Tages, an dem er heiraten sollte. Wissen Sie, mit wem oder warum?«
»Neuval hat angenommen, es war jemand, der in irgendeiner Beziehung zu der Witwe stand, ein entfernter, habgieriger Verwandter, der fürchtete, die Erbschaft würde einem Dahergelaufenen in die Hände fallen. Neuval hat vor allem Schundromane veröffentlicht, und es sieht ganz so aus, als hätte er das Genre verinnerlicht.«
»Ich sehe, Sie glauben nicht sehr an die Geschichte mit der Hochzeit und dem Duell.«
»Nein. Ich habe sie nie geglaubt.«
»Was denken Sie, was ist dann geschehen? Warum ist Carax nach Barcelona zurückgekehrt?« Sie lächelte traurig.
»Diese Frage stelle ich mir seit siebzehn Jahren.« Nuria Monfort zündete sich eine neue Zigarette an. Mir bot sie ebenfalls eine an. Ich fühlte mich versucht, lehnte aber ab.
»Aber irgendeine Vermutung werden Sie doch haben«, sagte ich.
»Alles, was ich weiß, ist, daß im Sommer 1936 kurz nach Kriegsausbruch ein Angestellter des städtischen Leichenschauhauses im Verlag angerufen und gesagt hat, vor drei Tagen sei Julián Carax’ Leiche bei ihnen eingeliefert worden. Man hatte ihn tot in einer Gasse des Raval gefunden, in Lumpen gehüllt und mit einer Kugel im Herzen. Er hatte ein Buch bei sich, Der Schatten des Windes, und seinen Paß. Der Stempel zeigte, daß er einen Monat zuvor über die französische Grenze gekommen war. Niemand weiß, wo er in dieser Zeit gesteckt hat. Die Polizei hat sich mit seinem Vater in Verbindung gesetzt, aber der wollte nichts mit der Leiche zu tun haben und sagte, er habe keinen Sohn. Als sich nach zwei Tagen niemand nach der Leiche erkundigte, wurde sie in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof des Montjuïc beerdigt. Ich habe ihm nicht einmal Blumen bringen können, weil mir niemand sagen konnte, wo er lag. Der Angestellte des Leichenschauhauses, der das in Juliáns Jackett gefundene Buch behalten hatte, ist nach einigen Tagen auf die Idee gekommen, im Verlag Cabestany anzurufen. So habe ich erfahren, was geschehen war. Ich konnte es nicht verstehen. Wenn Julián in Barcelona überhaupt noch jemand hatte, zu dem er gehen konnte, dann war ich es — oder allenfalls Cabestany. Wir waren seine einzigen Freunde, aber er hatte uns überhaupt nicht gesagt, daß er zurück war. Das haben wir erst nach seinem Tod erfahren…«
»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, nachdem Sie von seinem Tod erfahren hatten?«