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Fast heimtückisch brach der Nachmittag in sich zusammen, mit einem kalten Wind und einem Purpurschleier, der in sämtliche Winkel der Straßen glitt. Ich beschleunigte meine Schritte, und nach knapp zehn Minuten tauchte die Fassade der Universität wie ein in der Nacht gestrandetes ockerfarbenes Schiff auf. Der Pförtner der Philosophischen Fakultät las in seinem Verschlag Spaniens einflußreichste Federn der Gegenwart in der Abendausgabe von El Mundo Deportivo. Es schienen kaum noch Studenten anwesend zu sein. Das Echo meiner Schritte begleitete mich durch die Gänge und Galerien, die zum Kreuzgang führten, wo das Halbdunkel von zwei verschämten gelblichen Leuchten kaum beeinträchtigt wurde, plötzlich kam mir der Gedanke, Bea habe mich auf den Arm genommen und sich hier zu dieser Niemandsstunde mit mir nur verabredet, um sich für meine Anmaßung zu rächen. Die Blätter der Orangenbäume im Kreuzgang glänzten auf, und das Rauschen des Brunnens schlängelte sich zwischen den Bogen hindurch. Ich spähte in den Innenhof, halb enttäuscht, halb feige erleichtert. Da war sie. Vor dem Brunnen zeichnete sich ihre Silhouette ab, wie sie auf einer der Bänke saß und zu den Wölbungen des Kreuzgangs emporschaute. Ich blieb im Eingang stehen, um sie zu betrachten, und einen Moment lang glaubte ich in ihr die auf ihrer Bank der Plaza de San Felipe Neri tagträumende Nuria Monfort zu sehen. Ich stellte fest, daß Bea weder Mappe noch Bücher bei sich hatte, und dachte, vielleicht habe sie an diesem Nachmittag gar keine Vorlesung gehabt, sondern sei eigens meinetwegen hergekommen. Ich trat in den Kreuzgang. Meine Schritte auf den Pflastersteinen verrieten mich, und Bea schaute mit überraschtem Lächeln auf, als wäre ich rein zufällig hier.

»Ich dachte, du würdest nicht kommen«, sagte sie.

»Das hab ich von dir auch gedacht.« Sie blieb sitzen, sehr aufrecht, die Knie zusammengepreßt und die Hände im Schoß gefaltet. Ich fragte mich, wie es möglich war, jemanden als so fern zu empfinden und dennoch jedes Fältchen seiner Lippen lesen zu können.

»Ich bin gekommen, weil ich dir beweisen will, daß du dich geirrt hast in dem, was du neulich gesagt hast, Daniel. Daß ich Pablo heiraten werde und daß es keine Rolle spielt, was du mir heute abend zeigen wirst, ich werde mit ihm nach El Ferrol gehen, sobald er mit dem Militärdienst fertig ist.«

Ich schaute sie an. Mir wurde klar, daß ich zwei Tage lang auf Wolken geschwebt hatte und daß mir jetzt die Welt entglitt.

»Und ich dachte, du bist gekommen, weil du mich sehen wolltest.« Ich lächelte kraftlos und sah, wie sie vor Unbehagen errötete.

»Das hab ich bloß so gesagt«, log ich.

»Aber ernst gemeint habe ich, daß ich dir eine Seite der Stadt zeigen will, die du noch nicht kennst. So wirst du dich wenigstens an mich oder an Barcelona erinnern, wenn du weggegangen bist.«

Sie lächelte ein wenig traurig und wich meinem Blick aus.

»Ich wäre beinahe ins Kino gegangen, weißt du. Um dich heute nicht zu sehen«, sagte sie.

»Warum das denn?« Sie schaute mich schweigend an. Dann zuckte sie die Schultern und schaute in die Höhe, als wollte sie Worte im Flug erhaschen.

»Weil ich Angst hatte, daß du vielleicht recht hast«, sagte sie schließlich.Die zunehmende Dunkelheit und das Schweigen, das Fremde miteinander verbindet, die allein sind, schützten uns, und ich fühlte mich stark genug, jede Verrücktheit zu sagen, und sei es zum letzten Mal.

»Liebst du ihn oder nicht?« Ihr Lächeln löste sich auf.

»Das geht dich nichts an.«

»Stimmt. Das geht nur dich etwas an.« Ihr Blick wurde kalt.

»Was kann es dich denn interessieren?«

»Das geht dich nichts an.« Sie lächelte nicht. Ihre Lippen zitterten.

»Die Leute, die mich kennen, wissen, daß ich Pablo schätze. Meine Familie und…«

»Aber ich bin ja fast ein Fremder«, unterbrach ich sie, »und ich möchte es von dir hören.«

»Was hören?«

»Daß du ihn wirklich liebst. Daß du ihn nicht einfach heiratest, um von zu Hause wegzukommen oder um weit weg von Barcelona und deiner Familie zu sein, wo sie dir nichts anhaben können. Daß du gehst und nicht fliehst.« In ihren Augen glänzten Tränen der Wut.

»Du hast kein Recht, mir so etwas zu sagen, Daniel. Du kennst mich nicht.«

»Sag mir, daß ich mich irre, und ich werde gehen. Liebst du ihn?« Wir schauten uns lange schweigend an.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie schließlich.

»Ich weiß es nicht.«

»Irgend jemand hat mal gesagt, in dem Moment, wo man sich damit aufhält, darüber nachzudenken, ob man jemanden liebt, hat man schon für immer aufgehört, ihn zu lieben.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ein gewisser Julián Carax.«

»Ein Freund von dir?«

»So ähnlich.«

»Den wirst du mir vorstellen müssen.«

»Heute abend, wenn du willst.« Wir verließen die Universität unter einem blauschwarz gefleckten Himmel und spazierten ohne bestimmte Richtung dahin, eher um uns gegenseitig an unseren Schritt zu gewöhnen, als um irgendwohin zu gelangen. Wir flüchteten uns ins einzige beiden gemeinsame Thema, ihr Bruder Tomás. Bea sprach über ihn wie über einen Fremden, den man zwar liebt, aber kaum kennt. Sie wich meinem Blick aus. Ich spürte, daß sie bereute, was sie mir im Kreuzgang der Uni gesagt hatte, daß die Worte sie noch schmerzten, innerlich an ihr nagten.

»Du, von dem, was ich dir vorhin gesagt habe«, sagte sie plötzlich, »wirst du Tomás nichts erzählen, ja?«

»Natürlich nicht. Niemandem.« Sie lachte nervös.

»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Sei nicht gekränkt, aber manchmal fühlt man sich freier, mit einem Fremden zu sprechen als mit jemandem, den man kennt. Wie kommt das bloß?« Ich zuckte die Achseln.

»Wahrscheinlich weil uns ein Fremder sieht, wie wir sind, und nicht, wie er glauben will, daß wir sind.«

»Ist das auch von deinem Freund Carax?«

»Nein, das habe ich gerade erfunden, um dich zu beeindrucken.«

»Und wie siehst du mich?«

»Als ein Geheimnis.«

»Das ist das merkwürdigste Kompliment, das man mir je gemacht hat.«

»Das ist kein Kompliment. Das ist eine Drohung.«

»Wieso denn das?«

»Geheimnisse muß man ergründen, herausfinden, was sich hinter ihnen verbirgt.«

»Wahrscheinlich bist du enttäuscht, wenn du siehst, was drinnen ist.«

»Wahrscheinlich bin ich überrascht. Und du ebenfalls.«

»Tomás hat mir nie gesagt, daß du so unverschämt bist.«

»Mein bißchen Unverschämtheit spare ich mir eben ganz für dich auf.«

»Und warum?« Weil du mir Angst machst, dachte ich.Wir traten in ein altes Café beim Poliorama-Theater, setzten uns an einen Fenstertisch und bestellten Sandwiches und Milchkaffee, um uns aufzuwärmen. Sowie der Kaffee und das Essen kamen, stürzte ich mich ohne jeglichen Anspruch auf gute Manieren darauf. Bea rührte keinen Bissen an. Beide Hände um die große dampfende Tasse gelegt, schaute sie mir zu.

»Was willst du mir also heute zeigen, was ich noch nicht kenne?«

»Verschiedenes. Was ich dir aber wirklich zeigen werde, gehört zu einer Geschichte. Hast du mir nicht neulich gesagt, daß du gern liest?« Sie nickte und zog erwartungsvoll die Brauen in die Höhe.

»Also, das ist eine Geschichte, die von Büchern handelt.«

»Von Büchern?«

»Von verfluchten Büchern, von dem Mann, der sie geschrieben hat, von jemandem, der aus den Seiten eines Romans entwischt ist, um ihn zu verbrennen, von einem Verrat und einer verlorenen Freundschaft. Es ist eine Geschichte von Liebe, Haß und den Träumen, die im Schatten des Windes hausen.«

»Du klingst wie der Klappentext eines Schundromans, Daniel.«

»Wahrscheinlich weil ich in einer Buchhandlung arbeite und zu viele von denen gesehen habe. Aber das ist eine wahre Geschichte. Sie stimmt ebenso, wie daß das Brot, das man uns aufgetischt hat, mindestens drei Tage alt ist. Und wie alle wahren Geschichten beginnt und endet sie auf einem Friedhof, aber nicht einem Friedhof, wie du ihn dir vorstellst.« Sie lächelte wie ein Kind, dem man ein Rätsel oder einen Zaubertrick in Aussicht stellt.