»Das ist mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Dafür, daß du fast elf bist, lügst du nicht schlecht. Sieh dich vor, oder du endest noch wie mein Onkel.« Da ich befürchtete, abermals ins Fettnäpfchen zu treten, blieb ich schweigend sitzen und starrte sie fasziniert an.
»Na los, komm her«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Komm her und hab keine Angst. Ich werde dich schon nicht auffressen.« Ich stand vom Stuhl auf und trat zu Clara. Sie hob die rechte Hand und tastete nach mir. Ohne recht zu wissen, wie ich mich verhalten sollte, reichte ich ihr die Hand. Sie nahm sie in die eine und bot mir die andere Hand. Instinktiv begriff ich, worum sie mich bat, und führte sie zu meinem Gesicht. Ihre Berührung war kräftig und zart zugleich. Ihre Finger wanderten über meine Wangen und die Backenknochen. Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen, während Clara mit der Hand meine Züge las. Dabei lächelte sie vor sich hin, und ich konnte sehen, daß sich ihre Lippen wie in stummem Murmeln halb schlossen. Ich spürte die leichte Berührung ihrer Hände auf der Stirn, im Haar und auf den Lidern. Bei meinen Lippen hielt sie inne und zeichnete sie mit Zeige- und Ringfinger schweigend nach. Sie rochen nach Zimt. Ich mußte schlucken, als ich feststellte, daß mein Puls gewaltsam emporschnellte, und war heilfroh, daß es keine Augenzeugen für mein glühendes Erröten gab.
3
An diesem Dunst- und Nieselabend raubte mir Clara Barceló das Herz, den Atem und den Schlaf. Im Licht des Athenäums schrieben ihre Finger meiner Haut einen Fluch ein, der mich jahrelang verfolgen sollte. Während ich sie mit offenem Mund betrachtete, erzählte mir die Nichte des Buchhändlers ihre Geschichte und wie sie, ebenfalls durch Zufall, auf Julián Carax gestoßen war. Das war in einem Dorf der Provence geschehen. Ihr Vater, ein renommierter, dem Kabinett des Präsidenten Companys verbundener Anwalt, hatte den Weitblick gehabt, Tochter und Gattin bei Ausbruch des Bürgerkriegs auf die andere Seite der Grenze zu seiner Schwester zu schicken. Manche Leute waren zwar der Meinung, das sei übertrieben, in Barcelona werde schon nichts geschehen und in Spanien, Wiege und Inbegriff der christlichen Zivilisation, sei die Barbarei eine Sache der Anarchisten und die brächten es, zu Rad und mit Flicken auf den Strümpfen, nicht sehr weit. Die Völker betrachten sich nie im Spiegel, sagte Claras Vater immer, und erst recht nicht, wenn sie einen Krieg am Hals haben. Der Anwalt war ein guter Kenner der Geschichte und wußte, daß die Zukunft eher auf den Straßen, in den Fabriken und Kasernen zu lesen war als in den Morgenblättern. Monatelang schrieb er ihnen jede Woche. Anfänglich aus seiner Kanzlei in der Calle Diputación, dann ohne Absender und schließlich heimlich aus einer Zelle im Kastell des Montjuïc, wo ihn, wie so viele andere, niemand hineingehen sah und wo er nie wieder herauskam.
Claras Mutter las die Briefe vor, kämpfte dabei mit den Tränen und übersprang die Absätze, die ihre Tochter erahnte, ohne sie hören zu müssen. Später, um Mitternacht, brachte Clara ihre Kusine Claudette dazu, ihr die väterlichen Briefe noch einmal, diesmal vollständig, vorzulesen. Das war ihre Art zu lesen, mit geliehenen Augen. Nie sah jemand sie eine Träne vergießen, weder als die Briefe des Anwalts ausblieben, noch als die Nachrichten vom Krieg das Schlimmste befürchten ließen.
»Mein Vater wußte von Anfang an, was geschehen würde«, sagte Clara.
»Er blieb an der Seite seiner Freunde, weil er dachte, das sei seine Pflicht. Das Leben gekostet hat ihn die Treue zu Leuten, die ihn verrieten, als es darauf angekommen wäre. Trau nie jemandem, Daniel, vor allem nicht Menschen, die du bewunderst. Die werden dir die schlimmsten Stiche zufügen.«
Die Härte ihrer Worte schien von einem jahrelangen Leben in Geheimnissen und Schatten geschmiedet. Ich verlor mich in ihrem Porzellanblick, Augen ohne Tränen und Trug, und hörte sie von Dingen sprechen, die ich damals nicht verstand. Clara beschrieb Menschen, Schauplätze und Gegenstände, die sie selbst nie gesehen hatte, mit der Detailtreue eines Meisters der flämischen Schule. Sie erzählte mir, wie sie und ihre Kusine Claudette in den Jahren des französischen Exils sich in einen Vormund und Privatlehrer geteilt hatten, einen versoffenen Fünfziger, der sich als Literat wähnte und sich damit brüstete, Vergils Äneis auf lateinisch rezitieren zu können, und dem sie den Spitznamen Monsieur Roquefort gegeben hatten, da er trotz der römischen Bäder mit Kölnisch Wasser und Parfüm, mit denen er seine Schlemmergestalt beizte, einen sehr besonderen Geruch verströmte. Bei all seinen beträchtlichen Eigentümlichkeiten (unter denen eine feste, ja kämpferische Überzeugung hervorstach, Würste und insbesondere die Blutwürste, die Clara und ihre Mutter von den Verwandten aus Spanien bekamen, seien ein Wundermittel für den Kreislauf und gegen die Gicht) war Monsieur Roquefort ein Mann mit erlesenem Geschmack. Von jung auf reiste er einmal monatlich nach Paris, um seinen Kulturfundus mit den letzten literarischen Neuheiten anzureichern, Museen zu besichtigen und, wie gemunkelt wurde, einen freien Abend in den Armen eines Nymphchens zu verbringen, das er Madame Bovary getauft hatte, obwohl sie Hortense hieß und eine Anlage zum Gesichtsflaum hatte. Auf seinen Kulturexkursionen pflegte Monsieur Roquefort einen Bouquinisten am linken Seineufer aufzusuchen, und dort stieß er an einem Nachmittag des Jahres 1929 zufällig auf einen Roman eines unbekannten Autors namens Julián Carax. Unbekanntem gegenüber stets offen, kaufte er das Buch, und zwar vor allem weil ihm der Titel attraktiv erschien und er auf der Rückfahrt im Zug gern etwas Leichtes las. Der Roman hieß Das rote Haus, und auf der Umschlagrückseite war ein verschwommenes Bild des Autors abgedruckt, vielleicht ein Foto oder eine Kohlezeichnung. In der Angabe zur Person hieß es nur, daß Julián Carax ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren war, der mit dem Jahrhundert in Barcelona geboren wurde und jetzt in Paris lebte, auf französisch schrieb und sich hauptberuflich als Nachtpianist in einem Animierlokal betätigte. Der gespreizte, wichtigtuerische Klappentext verkündete, es handle sich um das erste Werk eines blendenden Geistes, eines proteischen, bahnbrechenden Talents, einer Zukunftsverheißung für die europäische Literatur ohnegleichen in der Welt der Lebenden. Doch die folgende Inhaltszusammenfassung ließ durchblicken, daß die Geschichte ziemlich reißerische Elemente enthielt, was in Monsieur Roqueforts Augen immer ein Pluspunkt war, denn am meisten gefielen ihm gleich nach den Klassikern leicht anrüchige Sensationsromane.
Das rote Haus schilderte das gepeinigte Leben eines geheimnisvollen Mannes, der Spielwarenläden und Museen überfiel, um Puppen und Marionetten zu stehlen; denen riß er danach die Augen aus und brachte sie in seine Bleibe, ein gespenstisches verlassenes Gewächshaus am Seineufer. Als er eines Nachts in eine Luxusvilla in der Avenue Foix einbrach, um die private Puppensammlung eines während der industriellen Revolution mit dunklen Machenschaften zu Geld gekommenen Magnaten zu plündern, verliebte sich seine Tochter, eine sehr belesene, feine junge Dame der guten Pariser Gesellschaft, in den Eindringling. Je weiter der verworrene Plot gedieh, in dem sich heikle Zwischenfälle und zwielichtige Episoden häuften, desto tiefer drang die Heldin in das Rätsel ein, das den undurchsichtigen Protagonisten, der seinen Namen nie preisgab, dazu brachte, die Puppen zu blenden. Sie entdeckte ein schreckliches Geheimnis über ihren eigenen Vater und seine Porzellanfigurensammlung und mußte am Ende in einer schaurigen Szene untergehen.
Monsieur Roquefort, ein Langstreckenläufer in literarischen Gefechten und stolz darauf, eine große Briefsammlung mit den Unterschriften sämtlicher Pariser Verleger zu besitzen, die seine ihnen unentwegt zugeschickten Gedicht- und Prosabände ablehnten, identifizierte den Verlag, der den Roman veröffentlicht hatte, als unbedeutendes Haus, bekannt allenfalls für seine Koch- und Häkelbücher. Der Bouquinist erzählte ihm, der Roman sei wenig verkauft worden und habe einzig in zwei Provinzblättern eine neben den Nekrologen plazierte Rezension erhalten. Auf wenigen Zeilen hätten die Kritiker mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten und dem Anfänger Carax empfohlen, seinen Pianistenjob nicht aufzugeben, denn in der Literatur, soviel sei klar, werde er nicht den Ton angeben. Monsieur Roquefort, dem bei hoffnungslosen Fällen Herz und Börse weich wurden, beschloß, einen halben Franc zu investieren, und nahm den Roman dieses Carax zusammen mit einer exquisiten Ausgabe von Salammbô des großen Meisters Gustave Flaubert mit, als dessen noch zu entdeckender Erbe er sich fühlte.