Der Zug nach Lyon war überfüllt, so daß Monsieur Roquefort nichts anderes übrigblieb, als sein ZweiterKlasse-Abteil mit zwei Nonnen zu teilen, die ihm, kaum hatten sie die Gare d’Austerlitz hinter sich gelassen, unaufhörlich mißbilligende Blicke zuwarfen und dabei leise miteinander flüsterten. Angesichts dieser Observation beschloß Monsieur Roquefort, den Roman aus der Aktentasche zu ziehen und sich hinter seinen Seiten zu verschanzen. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er Hunderte Kilometer später, daß er die Schwestern, das Rütteln des Zuges und die wie ein schlechter Traum der Gebrüder Lumière an den Fenstern vorüberziehende Landschaft vergessen hatte. Er las die ganze Nacht, ohne auf das Schnarchen der Nonnen und die vorbeihuschenden Bahnhöfe in der Dunkelheit zu achten. Als er im Morgengrauen die letzte Seite umblätterte, stellte er fest, daß er Tränen in den Augen und das Herz von Neid und Schrecken vergiftet hatte.
Noch am selben Montag rief er den Verlag in Paris an, um Informationen über Julián Carax zu erbitten. Nach langem Drängen sagte ihm eine Telefonistin mit asthmatischer Stimme und einem Hang zur Bosheit, Señor Carax verfüge über keine bekannte Adresse, er stehe jedenfalls nicht mehr mit dem fraglichen Verlag in Verbindung und vom Roman Das rote Haus seien seit dem Tag seiner Veröffentlichung genau siebenundsiebzig Exemplare verkauft worden, mehrheitlich wohl an die leichten Mädchen und an andere Stammgäste des Lokals, wo der Autor für ein paar Münzen Nocturnes und Polonaisen herunterklimpere. Die restlichen Exemplare seien zurückgekommen und eingestampft worden, um Meßbücher, Strafzettel und Lotterielose zu drucken. Das elende Schicksal des geheimnisvollen Autors hatte Monsieur Roqueforts Sympathien gewonnen. In den folgenden zehn Jahren ging er bei jedem seiner Pariser Besuche von Antiquariat zu Antiquariat und suchte weitere Werke von Julián Carax. Nie fand er eines. Kaum jemand hatte je von diesem Autor gehört, und die, denen der Name etwas sagte, wußten nur wenig über ihn. Jemand meinte, er habe einige weitere Bücher veröffentlicht, immer in unbedeutenden Verlagen und in lächerlich wenig Exemplaren. Wenn sie überhaupt existierten, waren diese Bücher jedenfalls unmöglich zu finden. Ein Buchhändler gab an, einmal ein Exemplar eines Carax-Romans mit dem Titel Der Kathedralendieb in den Händen gehabt zu haben, aber das sei schon lange her, und er sei sich nicht ganz sicher. Ende 1935 erhielt er Kenntnis, daß ein kleiner Pariser Verlag einen neuen Roman von Julián Carax herausgebracht habe, Der Schatten des Windes. Er schrieb dem Verlag, um mehrere Exemplare zu kaufen. Er erhielt nie eine Antwort. Im folgenden Jahr, im Frühling 1936, fragte ihn sein alter Freund, der Bouquinist am linken Seineufer, ob er sich noch immer für Carax interessiere. Monsieur Roquefort sagte, er gebe sich nie geschlagen: Wenn die Welt es darauf angelegt habe, Carax der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, habe er noch lange keine Lust, sich dem zu fügen. Sein Freund erklärte ihm, Wochen zuvor habe ein Gerücht über Carax die Runde gemacht. Endlich scheine sich sein Schicksal geändert zu haben. Er habe eine gutgestellte Dame ehelichen wollen und nach mehreren Jahren des Schweigens einen neuen Roman publiziert, der erstmals in Le Monde eine vorteilhafte Rezension bekommen habe. Doch genau in dem Moment, als sich das Blatt zu wenden schien, erklärte der Bouquinist, sei Carax in ein Duell auf dem Friedhof Père Lachaise verwickelt worden. Die Umstände dieses Vorfalls seien unklar. Alles, was man wisse, sei, daß das Duell am frühen Morgen des Tages, an dem Carax hätte heiraten sollen, stattgefunden habe und daß der Bräutigam nie in der Kirche erschienen sei.
Es gab Meinungen für jeden Geschmack: Die einen dachten, er sei bei diesem Duell umgekommen und sein Leichnam liege in einem anonymen Grab; andere, Optimistischere glaubten eher, Carax sei in eine undurchsichtige Affäre verstrickt gewesen und habe seine Braut beim Altar verlassen und von Paris zurück nach Barcelona fliehen müssen. Das namenlose Grab wurde nie gefunden, und kurz darauf kam eine weitere Version in Umlauf: Vom Unglück verfolgt, sei Julián Carax in seiner Geburtsstadt gänzlich verelendet gestorben. Die Mädchen des Bordells, in dem er Klavier gespielt hatte, hätten Geld gesammelt, um ihm eine menschenwürdige Bestattung zu ermöglichen. Als die Überweisung eingetroffen sei, sei er bereits in einem Massengrab beerdigt gewesen, neben den Leichen von Bettlern und im Hafenwasser treibenden oder auf der Treppe zur Untergrundbahn erfrorenen Menschen.
Und sei es aus bloßem Widerspruchsgeist, Monsieur Roquefort vergaß Carax nicht. Elf Jahre nachdem er Das rote Haus entdeckt hatte, beschloß er, den Roman seinen beiden Schülerinnen auszuleihen, in der Hoffnung, dieses merkwürdige Buch werde sie vielleicht dazu ermuntern, sich die Gewohnheit des Lesens anzueignen. Zu jener Zeit waren Clara und Claudette zwei fünfzehnjährige Mädchen, deren Blut in Aufruhr war und denen die Welt durchs Fenster des Studierzimmers zublinzelte. Trotz der Bemühungen ihres Hauslehrers hatten sie sich bisher dem Zauber der Klassiker, Äsops Fabeln oder Dante Alighieris unsterblichen Versen gegenüber spröde gezeigt. Da Monsieur Roquefort befürchtete, sein Vertrag werde gekündigt, sollte Claras Mutter entdecken, daß sein Lehrerwirken nichts als zwei wirrköpfige Analphabetinnen heranbildete, gab er ihnen Carax’ Roman unter dem Vorwand, es handle sich um eine Liebesgeschichte von der Sorte, bei der man Rotz und Wasser heule, was nur die halbe Wahrheit war.
4
»Noch nie hatte ich mich von einer Geschichte so gefangengenommen, betört und hineingezogen gefühlt wie von der, die dieses Buch erzählte«, erklärte Clara.
»Bis dahin war Lesen für mich eine Pflicht gewesen, eine Art Buße, die es Lehrern und Erziehern zu bezahlen galt, ohne daß ich genau wußte, warum. Ich kannte die Freude am Lesen nicht, die Freude daran, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftun, sich der Fantasie zu überlassen, der Schönheit und dem Geheimnis von Dichtung und Sprache. All das entstand für mich bei diesem Roman. Hast du schon einmal ein Mädchen geküßt, Daniel?«
Ich hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde mir zu Sägemehl.
»Na ja, du bist ja auch noch sehr jung. Aber es ist genau dieses Gefühl, dieser Funke des ersten Mals, den man nicht vergißt. Wir leben in einer Schattenwelt, Daniel, und Magie ist ein rares Gut. Dieser Roman hat mich gelehrt, daß ich durch Lesen mehr und intensiver leben, daß Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.« An diesem Punkt konnte ich nur noch offenen Mundes staunen, ganz diesem weiblichen Wesen ausgeliefert, dessen Worten und Reizen ich nicht widerstehen konnte noch wollte. Ich wünschte, sie möchte nie mehr zu sprechen aufhören, ihre Stimme möchte mich für immer einhüllen und ihr Onkel würde nie zurückkommen und den Zauber dieses Augenblicks brechen, der nur mir gehörte.