»Jahrelang habe ich weitere Bücher von Carax gesucht«, fuhr Clara fort.
»Ich habe mich in Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen erkundigt — immer umsonst. Niemand hatte von ihm oder seinen Büchern gehört. Ich konnte es nicht verstehen. Später kam Monsieur Roquefort eine seltsame Geschichte über einen Mann zu Ohren, der auf der Suche nach Werken von Julián Carax Buchhandlungen und Bibliotheken abklapperte und sie, wenn er welche fand, kaufte, stahl oder sich sonstwie aneignete und gleich danach verbrannte. Niemand wußte, wer er war noch warum er das tat. Ein weiteres Geheimnis, das zum eigentlichen Carax-Geheimnis hinzukam. Mit der Zeit verspürte meine Mutter den Wunsch, nach Spanien zurückzukehren. Sie war krank, und ihr Zuhause und ihre Welt waren immer Barcelona gewesen. Insgeheim nährte ich die Hoffnung, hier etwas über Carax zu erfahren, schließlich und endlich war Barcelona die Stadt, wo er geboren worden und von wo er zu Beginn des Krieges für immer verschwunden war. Aber ich habe nichts gefunden als tote Gleise, obwohl mir mein Onkel behilflich war. Meiner Mutter ist bei ihrer eigenen Suche etwas Vergleichbares widerfahren. Das Barcelona, das sie bei ihrer Rückkunft vorfand, war nicht mehr das, das sie verlassen hatte. Sie sah sich einer Stadt der Dunkelheit gegenüber, in der es meinen Vater nicht mehr gab, die aber noch immer verhext war durch sein Andenken und die Erinnerung an ihn in jedem Winkel. Als reichte es ihr mit diesem Elend noch nicht, heuerte sie einen Mann an, der herausfinden sollte, was genau aus meinem Vater geworden war. Nach monatelangen Ermittlungen konnte er als einziges eine kaputte Armbanduhr und den Namen des Mannes beibringen, der meinen Vater in den Gräben des Kastells des Montjuïc getötet hatte. Er hieß Fumero, Javier Fumero. Man sagte uns, dieser Mann — und er war nicht der einzige — habe als vom Anarchistischen Verband Spaniens gedungener Killer angefangen und mit Anarchisten, Kommunisten und Faschisten geflirtet, dabei alle getäuscht und seine Dienste dem Meistbietenden verkauft, und nach dem Fall Barcelonas habe er sich auf die Seite des Siegers geschlagen und sei ins Polizeikorps eingetreten. Heute ist er ein berüchtigter, ordengeschmückter Polizeiinspektor. An meinen Vater erinnert sich niemand mehr. Wie du dir vorstellen kannst, ist meine Mutter innerhalb weniger Monate erloschen. Die Ärzte haben gesagt, es sei das Herz, und ich glaube, ausnahmsweise haben sie ins Schwarze getroffen. Nach ihrem Tod bin ich zu meinem Onkel Gustavo gezogen, dem einzigen Verwandten, der meiner Mutter in Barcelona noch geblieben war. Ich habe ihn angebetet, weil er mir immer Bücher zum Geschenk machte, wenn er uns besuchte. Er ist diese ganzen Jahre meine einzige Familie und mein bester Freund gewesen. Auch wenn er dir ein wenig arrogant vorkommen mag, im Grunde ist er eine Seele von Mensch. Selbst wenn er vor Müdigkeit umfällt, liest er mir jeden Abend ohne Ausnahme eine Weile vor.«
»Wenn Sie möchten, könnte auch ich Ihnen vorlesen«, stieß ich hervor, bereute meine Verwegenheit aber auf der Stelle, überzeugt, für Clara könne meine Gesellschaft höchstens eine Belästigung, wenn nicht gar ein Witz sein.
»Danke, Daniel«, antwortete sie.
»Es würde mich sehr freuen.«
»Sobald Sie mögen.«
Sie nickte langsam und suchte mich mit ihrem Lächeln.
»Bedauerlicherweise habe ich dieses Exemplar des Roten Hauses nicht mehr«, sagte sie.
»Monsieur Roquefort hat sich geweigert, es herzugeben. Ich könnte versuchen, dir die Handlung zu erzählen, aber das wäre, als beschriebe ich eine Kathedrale mit den Worten, sie sei ein Steinhaufen, der in eine Spitze münde.«
»Ich bin sicher, Sie würden es sehr viel besser erzählen«, murmelte ich.Frauen wissen mit untrüglichem Instinkt, wenn ein Mann sich sterblich in sie verliebt hat, besonders wenn er strohdumm und minderjährig ist. Ich erfüllte alle Bedingungen, um von Clara Barceló zum Teufel geschickt zu werden, aber ich zog es vor, zu glauben, der Umstand ihrer Blindheit garantiere mir einen gewissen Sicherheitsspielraum und mein Frevel, meine kläglichkomische Zuneigung zu einer Frau, die doppelt so alt, intelligent und groß war wie ich, könnte unentdeckt bleiben. Ich fragte mich, was sie in mir sehen mochte, um mir ihre Freundschaft anzubieten, wenn nicht vielleicht einen blassen Abglanz ihrer selbst, einen Widerhall ihrer eigenen Verlorenheit.
Als Barceló mit einem Katzengrinsen zurückkam, waren zwei Stunden vergangen, die mir wie zwei Minuten erschienen waren. Der Buchhändler reichte mir den Band und zwinkerte mir zu.
»Schau ihn dir genau an, Spitzbube, ich will nicht, daß du mir nachher kommst und sagst, ich hätte dich übers Ohr gehauen, ja?«
»Ich vertraue Ihnen.«
»Schon dumm. Dem letzten, der mir das sagte (ein Yankee-Tourist, der überzeugt davon war, der Spanische Bürgerkrieg sei ein Western mit Gary Cooper), habe ich ein von Lope de Vega mit Kugelschreiber signiertes Exemplar von Fuente Ovejuna angedreht, stell dir vor — sei also vorsichtig, im Buchmetier darfst du nicht mal dem Inhaltsverzeichnis trauen.«
Es wurde dunkel, als wir wieder auf die Calle Canuda hinaustraten. Eine kühle Brise streifte durch die Stadt, und Barceló zog den Mantel aus, um ihn Clara über die Schultern zu legen. Da ich in absehbarer Zeit keine günstigere Chance sah, warf ich so ganz nebenbei hin, wenn es ihnen recht sei, könne ich am nächsten Tag zu ihnen kommen, um Clara einige Kapitel aus Der Schatten des Windes vorzulesen. Barceló schaute mich von der Seite an und brach in jähes Lachen aus.
»Junge, du hast aber Feuer gefangen.«
Sein Ton indessen verriet Zustimmung.
»Nun, wenn es Ihnen morgen nicht paßt, dann vielleicht ein andermal oder…«
»Clara hat das Wort«, sagte der Buchhändler.
»In der Wohnung haben wir schon sieben Katzen und zwei Kakadus. Da kommt es auf ein Biest mehr oder weniger nicht an.«
»Ich erwarte dich also morgen abend gegen sieben«, schloß Clara.
»Kennst du die Adresse?«
5
Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, wo ich, vielleicht weil ich inmitten von Büchern und Buchhändlern aufwuchs, beschloß, Romancier zu werden und ein melodramatisches Leben zu führen. Außer in der wunderbaren Einfalt, mit der man als Fünfjähriger alles sieht, gründeten meine literarischen Träume in einer märchenhaften kunsthandwerklichen Präzisionsarbeit, die in einem Schreibwarengeschäft in der Calle Anselmo Clavé, gleich hinter der Militärregierung, ausgestellt war. Der Gegenstand meiner Anbetung, ein prachtvoller, mit weiß Gott wie vielen Kostbarkeiten und Schnörkeln verbrämter schwarzer Füllfederhalter, nahm im Schaufenster den Ehrenplatz ein, als wäre er eines der Kronjuwelen. Ein Wunder in sich selbst, war er ein barockes Delirium aus Silber, Gold und tausend Windungen, das blitzte wie der Leuchtturm von Alexandria. Wenn mein Vater mit mir spazierenging, gab ich keine Ruhe, bis er mit mir den Füllfederhalter anschauen kam. Er sagte, das müsse zum wenigsten das Schreibwerkzeug eines Kaisers gewesen sein. Insgeheim war ich überzeugt, daß man mit einem solchen Wunderwerk alles schreiben konnte, von Romanen bis zu den prächtig gebundenen, wie Soldaten bei einer Parade aufgereihten Bänden eines Lexikons, die im Laden meines Vaters standen, ja selbst Briefe mit einer Macht jenseits aller postalischen Einschränkung. In meiner Naivität dachte ich, was immer ich mit dieser Feder schriebe, würde überallhin gelangen, selbst an den unbegreiflichen Ort, an den nach den Worten meines Vaters meine Mutter gegangen war und woher sie nie wieder zurückkehrte.
Eines Tages kamen wir auf die Idee, den Laden zu betreten, um uns nach dem Prachtstück zu erkundigen. Es stellte sich heraus, daß es der König der Füllfederhalter war, ein numerierter Montblanc Meisterstück, der, so behauptete jedenfalls feierlich der Geschäftsführer, keinem Geringeren als Victor Hugo gehört hatte. Dieser Goldfeder sei das Manuskript der Elenden entsprungen.