»Heute abend schaust du aber grüblerisch aus«, sagte mein Vater, um ein Gespräch in Gang zu setzen.
»Das wird die Feuchtigkeit sein, sie erweitert das Hirn. Sagt Barceló.«
»Es wird wohl sonst noch etwas sein. Beschäftigt dich irgendwas, Daniel?«
»Nein. Ich habe bloß nachgedacht.«
»Worüber denn?«
»Über den Krieg.«
Mein Vater nickte düster und schlürfte schweigend seine Suppe. Er war ein zurückhaltender Mann, und obwohl er in der Vergangenheit lebte, sprach er fast nie von ihr. Ich war in der Überzeugung aufgewachsen, das stockende Voranschreiten der Zeit nach dem Ende des Bürgerkriegs, eine Welt aus Bewegungslosigkeit, Elend und heimlichem Groll, sei ebenso normal wie das Leitungswasser, und die stumme, aus den Mauern der verwundeten Stadt blutende Trauer sei das wirkliche Antlitz ihrer Seele. Eine der Besonderheiten der Kindheit ist, daß man etwas nicht zu begreifen braucht, um es zu spüren. Ist dann der Verstand schließlich in der Lage, das Geschehene zu verstehen, so sind die Wunden im Herzen schon zu tief. Als ich an diesem Sommerabend, der für mich eine Wende bedeuten sollte, durch die dunkle, tückische Barceloneser Nacht gegangen war, wollte es mir nicht gelingen, Claras Erzählung über das Verschwinden ihres Vaters aus den Gedanken zu verscheuchen. In meiner Welt war der Tod eine anonyme, unverständliche Hand, ein Hausierer, der Mütter, Bettler oder neunzigjährige Nachbarn mit sich nahm, als wäre es eine Lotterie der Hölle. Die Vorstellung, der Tod könnte neben mir einhergehen, mit einem Menschengesicht und haßvergiftetem Herzen, in Uniform oder Mantel, er könnte vor dem Kino Schlange stehen, in Kneipen lachen oder vormittags mit seinen Kindern im Ciudadela-Park Spazierengehen, um nachmittags jemanden in den Verliesen des Kastells des Montjuïc oder in einem namenlosen Massengrab ohne Zeremoniell verschwinden zu lassen, das wollte mir nicht in den Kopf. Als ich immer weiter darüber nachdachte, kam ich auf den Gedanken, vielleicht sei diese Welt, die ich für selbstverständlich nahm, nichts weiter als eine Kulisse aus Pappmaché. Wie die Züge der Renfe, so kam in diesen gestohlenen Jahren das Ende der Kindheit dann, wenn es eben kam.
Wir beugten uns über diese Brühe aus Resten mit Brot, in das aufdringliche Gebrabbel der Rundfunkserien gehüllt, das überall durch die offenen Fenster hereindrang.
»Wie ist es dir denn nun ergangen mit Don Gustavo?«
»Ich habe seine Nichte kennengelernt, Clara.«
»Die Blinde? Die soll ja eine Schönheit sein.«
»Ich weiß nicht. Darauf achte ich nicht.«
»Ist auch besser für dich.«
»Ich hab ihnen gesagt, vielleicht komme ich morgen nach der Schule zu ihnen, um der Armen etwas vorzulesen, sie ist ja sehr allein. Wenn ich darf.«
Mein Vater musterte mich verstohlen, als fragte er sich, ob er vorzeitig altere oder ich zu schnell groß werde. Ich beschloß, das Thema zu wechseln, und das einzige, das ich finden konnte, war das, das mich im Innersten aufwühlte.
»Im Krieg — stimmt es, daß man da Leute ins Kastell des Montjuïc gebracht hat, die man dann nie mehr sah?« In aller Ruhe führte mein Vater den Löffel zum Mund und schaute mich lange an. Das kurze Lächeln verschwand von seinen Lippen.
»Wer hat dir das gesagt? Barceló?«
»Nein. Tomás Aguilar, der erzählt ab und zu so Geschichten in der Schule.«
Mein Vater nickte langsam.
»In Zeiten des Krieges geschieht vieles, was schwer zu erklären ist, Daniel. Oft weiß auch ich nicht, was es wirklich zu bedeuten hat. Manchmal läßt man die Dinge besser, wie sie sind.«
Er seufzte und schlürfte ohne Appetit seine Suppe. Wortlos beobachtete ich ihn.
»Vor ihrem Tod hat mir deine Mutter das Versprechen abgenommen, mit dir nie über den Krieg zu reden und nicht zuzulassen, daß du dich an irgend etwas erinnerst, was geschehen ist.«
Ich wußte nicht, was antworten. Mein Vater kniff die Augen zusammen, als suchte er etwas in der Luft. Blicke oder ein Schweigen — oder vielleicht meine Mutter, damit sie seine Worte bekräftigte.
»Manchmal denke ich, es war ein Fehler, auf sie zu hören. Ich weiß es nicht.«
»Ist ja egal, Papa…«
»Nein, es ist nicht egal, Daniel. Nach einem Krieg ist nichts egal. Und ja — es stimmt, daß viele Leute in dieses Kastell hineingegangen und nie wieder herausgekommen sind.« Rasch begegneten sich unsere Blicke. Kurz danach stand mein Vater auf und zog sich in sein Zimmer zurück. Ich räumte die Teller ab und stellte sie in die kleine Marmorspüle in der Küche, um sie abzuwaschen. Wieder im Wohnzimmer, knipste ich das Licht aus und setzte mich in den alten Sessel meines Vaters. Der Luftzug von der Straße regte sich in den Vorhängen. Ich verspürte keine Müdigkeit und mochte sie auch nicht anlocken. Ich ging zum Balkon und lehnte mich hinaus, bis ich den dunstigen Schein sah, den die Straßenlaternen in der Puerta del Ángel aussandten. Die Gestalt hob sich von einem Stück Schatten ab, das reglos auf dem Straßenpflaster lag. Das schwache rötliche Glimmen einer Zigarettenglut spiegelte sich in ihren Augen. Sie war dunkel gekleidet, eine Hand steckte tief in der Jackentasche, die andere führte die Zigarette, die eine blaue Rauchwebe um ihr Profil spann. Sie beobachtete mich schweigend, das Gesicht verborgen. Nachlässig rauchend, blieb sie fast eine Minute dort stehen, den Blick fest auf meinen geheftet. Dann, als es von der Kathedrale Mitternacht schlug, nickte die Gestalt einen leichten Gruß, hinter dem ich ein Lächeln erahnte. Ich hätte den Gruß erwidern wollen, aber ich war wie gelähmt. Die Gestalt wandte sich ab, und ich sah sie mit leichtem Hinken davongehen. An jedem andern Abend hätte ich kaum auf einen solchen Fremden geachtet, aber sowie ich ihn im Dunst verschwinden sah, spürte ich kalten Schweiß auf der Stirn und hatte Atemnot. In Der Schatten des Windes hatte ich eine Szene gelesen, die der eben erlebten haargenau glich. Im Roman trat der Protagonist Mitternacht für Mitternacht auf den Balkon hinaus und stellte fest, daß ihn aus dem Schatten heraus ein Fremder beobachtete und dabei nachlässig rauchte. Immer blieb sein Gesicht in der Dunkelheit verborgen, und nur seine glühenden Augen deuteten sich in der Nacht an. Die rechte Hand tief in der Tasche eines schwarzen Jacketts vergraben, blieb der Fremde dort stehen, um dann davonzuhinken. In der Szene, die ich eben erlebt hatte, war dieser Fremde vielleicht irgendein Nachtschwärmer, eine gesichts- und belanglose Gestalt. In Carax’ Roman war der Fremde der Teufel.
6
Ein tiefer Vergessensschlaf und die Aussicht, an diesem Abend Clara wiederzusehen, brachten mich zur Überzeugung, daß die Vision nichts weiter zu bedeuten hatte. Vielleicht war dieses unerwartete Aufkeimen einer fieberhaften Fantasie nur ein Vorzeichen des herbeigesehnten Wachstumsschubs, der aus mir, wie mir sämtliche Nachbarinnen unseres Hauses verhießen, einen wenn nicht ordentlichen, so doch gutaussehenden Mann machen würde. Punkt sieben Uhr erschien ich in meiner festlichsten Gewandung und umduftet vom Varón-DandyKölnisch meines Vaters, in Don Gustavo Barcelós Wohnung, fest entschlossen, mich als Hausvorleser und Westentaschengecken einzuführen. Der Buchhändler und seine Nichte teilten sich eine Prachtwohnung auf der Plaza Real. Ein uniformiertes Dienstmädchen mit Haube und leicht legionärshaftem Ausdruck öffnete mir die Tür und machte dabei einen theatralischen Knicks.
»Sie sind bestimmt der junge Herr Daniel«, sagte sie.
»Ich bin die Bernarda, um Ihnen zu dienen.«
Die Bernarda befleißigte sich eines zeremoniösen Tons mit baumstarkem Cáceres-Akzent. Mit Gepränge und Würde führte sie mich durch das Heim der Barcelós. Die Wohnung, die im ersten Stock lag, nahm die Fläche des ganzen Gebäudes ein und beschrieb einen Kreis von Galerien, Salons und Gängen, der mir, da ich an unsere bescheidene Familienwohnung in der Calle Santa Ana gewöhnt war, wie eine verkleinerte Ausgabe des Escorials vorkam. Offensichtlich sammelte Don Gustavo außer bibliophilen Büchern, Inkunabeln und allerlei esoterischen Werken auch Statuen, Bilder und Altaraufsätze sowie eine reichhaltige Fauna und Flora. Ich folgte der Bernarda durch eine Galerie, die von Blattwerk und Tropenpflanzen strotzte und einen eigentlichen Wintergarten bildete. Durch ihre Verglasung drang schwaches, von Staub und Dunst vergoldetes Licht. Der Hauch eines Klaviers schwebte in der Luft, matt und mit verlassen nachhallenden Tönen. Die Bernarda schwang ihre Hafenarbeiterarme wie Macheten, um sich einen Weg durchs Dickicht zu bahnen. Ich folgte ihr dichtauf, und während ich rundherum alles genau studierte, erblickte ich ein halbes Dutzend Katzen und zwei grellbunte Kakadus von enormen Ausmaßen, die Barceló, wie mir die Bernarda erklärte, Ortega und Gasset getauft hatte. Am andern Ende dieses Waldes erwartete mich Clara in einem auf den Platz hinausgehenden Salon. Im Schutz eines Hauchs von Licht, das durch die Rosette einfiel, und angetan mit einem luftigen, türkisblauen Baumwollkleid, spielte der Gegenstand meiner nebulösen Sehnsüchte Klavier. Clara mochte schlecht spielen, nicht im Takt, und bei der Hälfte der Noten danebengreifen, für mich aber klang ihre Serenade wundervoll, und sie mit einem angedeuteten Lächeln und zur Seite geneigtem Kopf aufrecht vor den Tasten sitzen zu sehen erschien mir wie eine Vision des Himmels. Ich wollte mich räuspern, um meine Anwesenheit kundzutun, doch der Varón-DandyDuft hatte mich schon verraten. Clara brach ihr Konzert abrupt ab, und ein verschämtes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht.