Ihr gehört keiner Kriegergemeinschaft an, hatte Adelin zu ihm gesagt, als er vorschlug, daß andere und nicht gerade immer die Töchter des Speers seine Eskorte bilden sollten. Jeder Häuptling, ob er nun einem Clan oder einer Septime vorstand, wurde von Männern aus der Gemeinschaft begleitet, der er früher angehört hatte, bevor er Häuptling geworden war. Ihr gehört keiner Gemeinschaft an, aber Eure Mutter war eine Tochter des Speers. Die blonde Frau und die anderen neun hatten Aviendha dabei nicht angesehen, die ein paar Schritt weiter im Eingang zu Lians Dach stand; zumindest hatten sie nicht auffällig hinübergeschaut. Ungezählte Jahre lang haben Töchter, die den Speer nicht aufgeben wollten, ihre Kinder den Weisen Frauen anvertraut, die sie anderen Frauen an Kindesstatt übergaben. Sie wußten nicht, wohin ihre Kinder gebracht wurden, ja, nicht einmal, ob es Junge oder Mädchen war. Nun ist der Sohn einer Tochter des Speers zu uns zurückgekehrt und wir haben ihn erkannt. Wir gehen Euch zu Ehren nach Alcair Dal, Sohn der Shaiel, der Tochter des Speers von den Chumai Taardad. Ihre Miene wirkte so entschlossen — wie bei ihnen allen, einschließlich Aviendha —, daß er glaubte, wenn er ablehnte, würden sie ihm anbieten, mit ihm den Tanz der Speere zu tanzen.
Als er ihre Begleitung akzeptierte, ließen sie ihn diese Zeremonie mit dem ›Vergiß die Ehre nicht‹ erneut durchmachen, diesmal aber mit einem Getränk namens Oosquai, das man aus Zemai machte, und er mußte mit jeder einen kleinen Silberbecher vollständig leeren. Zehn Töchter, also zehn kleine Becher. Das Zeug sah aus wie leicht bräunlich gefärbtes Wasser, schmeckte auch so ähnlich, war aber stärker als doppeltgebrannter Schnaps. Er war nicht mehr in der Lage gewesen, geradeaus zu gehen. Sie hatten ihn ausgelacht und zu Bett gebracht. Er hatte wohl protestiert, doch sie hatten ihn so gekitzelt, daß er kaum Luft bekam, so mußte er selbst lachen. Alle hatten mitgemacht, bis auf Aviendha. Nicht, daß sie weggegangen wäre! Sie blieb und beobachtete alles mit steinernem Gesicht. Als Adelin und die anderen ihn schließlich unter die Decken gesteckt hatten und gingen, setzte sich Aviendha neben die Tür, breitete ihren dunklen, schweren Rock aus und beobachtete ihn weiter unbeweglich, bis er einschlief. Als er erwachte, war sie immer noch da und blickte ihn an. Und sie sprach nicht mit ihm, weder über die Töchter des Speers noch über Oosquai oder sonst etwas. Soweit es sie betraf, schien nichts davon geschehen zu sein. Die Töchter fragte er lieber nicht danach. Wie konnte er zehn Frauen ins Gesicht sehen und sie fragen, warum sie ihn betrunken und sich einen Spaß daraus gemacht hatten, ihn auszuziehen und ins Bett zu legen?
So viele Unterschiede und so wenige, deren Sinn er erkennen konnte. Und er wußte nie, was ihn vielleicht zu Fall bringen und all seine Pläne zerstören konnte. Doch er konnte sich kein langes Warten leisten. Er blickte sich nach hinten um. Was geschehen war, war geschehen. Und wer weiß schon, was noch alles auf mich zukommt?
Ein gutes Stück hinter ihnen folgten die Taardad. Nicht nur die Neun-Täler-Taardad und die Jindo, sondern auch die Miadi und die Vier-Steine-Septime, die Chumai und die Blutiges-Wasser und weitere. In Kolonnen umgaben sie die schwankenden Wagen der Händler und die Gruppe um die Weisen Frauen. Zwei Meilen weit erstreckte sich die Kolonne im flimmernden Hitzedunst hinter ihm, und davor und dahinter waren noch Kundschafter und Boten zu sehen. Jeden Tag waren mehr eingetroffen, nachdem Rhuarc seine Kuriere gleich am ersten Tag ausgesandt hatte: hundert Männer und Töchter hier, dreihundert dort, fünfhundert aus einer anderen Septime, je nach Größe und nach dem Bedarf der Festungen, um die eigene Verteidigung nicht zu vernachlässigen.
In einiger Entfernung im Südwesten war eine andere Gruppe zu erkennen, die im schnellen Lauf daherkam und eine lange Staubspur hinter sich herzog. Vielleicht war es ein anderer Clan auf dem Weg nach Alcair Dal, doch das glaubte er nicht. Nur zwei Drittel der Septimen waren bisher hier vertreten, doch er schätzte die Zahl der Taardad Aiel hinter ihm bereits auf gut fünfzehntausend. Eine Armee auf dem Marsch, und sie wuchs immer noch. Beinahe der gesamte Clan kam zum Zusammentreffen der Häuptlinge, und das widersprach jedem Brauch.
Jeade'en trug ihn auf eine Anhöhe, und da sah er mit einemmal in einer langen und breiten Senke dahinter den bereits aufgebauten Markt und auf den Hügeln jenseits die Lager der Clan- und Septimenhäuptlinge, die bereits angekommen waren.
Zwischen den zwei- oder dreihundert niedrigen, nach den Seiten offenen Zelten, die in größeren Abständen voneinander aufgebaut waren, standen in der Senke Buden aus dem gleichen graubraunen Material. Sie waren hoch genug, daß man darunter stehen konnte. Im ihrem Schatten lagen auf Decken ausgebreitet Waren zum Verkauf aus: bunt glasierte Keramikgegenstände und noch buntere Läufer, Silber- und Goldschmuck. Vor allem also von den Aiel hergestellte Waren wurden hier angeboten, aber auch Dinge von jenseits der Wüste, vielleicht sogar Seide und Elfenbein aus dem fernen Osten. Niemand schien aber dort im Augenblick Handel zu treiben. Die wenigen Männer und Frauen, die er erkennen konnte, saßen meist allein in dem einen oder anderen solchen Pavillon.
Von den fünf Lagern, die auf den Höhen um den Markt herum verteilt waren, wirkten vier genauso leer. Nur ein paar Dutzend Männer und Töchter des Speers rührten sich unter Zelten, die für ein paar tausend Menschen errichtet worden waren. Das fünfte Lager bedeckte die doppelte Fläche der anderen, und dort waren hunderte von Menschen sichtbar, und wahrscheinlich noch einmal so viele befanden sich in den Zelten.
Rhuarc trabte mit seinen zehn Aethan Dor, den Roten Schilden, hinter Rand den Hügel hoch, gefolgt von Heirn mit zehn Tain Shari, Reinrassigen, und mehr als vierzig weiteren Septimenhäuptlingen mit ihren Ehrengarden, alle mit Schilden und Speeren ausgerüstet, mit Bögen und Köchern. Das war eine beachtliche Streitmacht — größere als diejenige, die den Stein von Tear eingenommen hatte. Einige der Aiel in den Lagern und den Buden blickten zu ihnen hoch. Wie Rand vermutete, wollten sie nicht die herannahenden Aiel sehen, sondern ihn: einen Mann auf einem Pferd. Das sah man selten im Dreifachen Land. Er würde ihnen noch mehr zeigen, bis er hier fertig war.
Rhuarcs Blick ruhte auf dem größten Lager, wo immer mehr Aiel im Cadin'sor aus den Zelten quollen, um in ihre Richtung zu spähen. »Shaido, wenn ich mich nicht irre«, sagte er leise. »Couladin. Ihr seid nicht der einzige, der die alten Bräuche mißachtet, Rand al'Thor.« »Vielleicht war es gut, daß ich damit angefangen habe.« Rand zog sich die Schufa vom Kopf und stopfte sie in seine Tasche zu dem Angreal, dieser kleinen Statuette des Mannes mit dem runden Gesicht und dem Schwert über den Knien. Die Sonne brannte auf sein bloßes Haupt nieder und bewies ihm, welch guten Schutz das Tuch doch geboten hatte. »Wenn wir dem Brauch entsprechend gekommen wären...« Die Shaido trotteten in Richtung der Berge davon und hinterließen anscheinend leere Zelte. Das rief auch in den anderen Lagern und auf dem Markt etwas mehr Bewegung hervor. Die Aiel dort hörten auf, einen Mann auf einem Pferd anzustarren und blickten statt dessen den enteilenden Shaido nach. »Hättet Ihr Euch den Weg nach Alcair Dal gegen eine doppelte oder noch größere Übermacht erkämpfen können, Rhuarc?« »Nicht vor Sonnenuntergang«, erwiderte der Clanhäuptling bedächtig, »nicht einmal gegen die räuberischen Shaido allein. Das ist nun mehr als nur ein mißachteter Brauch. Selbst die Shaido sollten zuviel Ehre im Leib haben, um so etwas zu tun!« Von den anderen Taardad auf dem Hügelkamm erklang zornigzustimmendes Gemurmel. Nur die Töchter standen abseits. Sie hatten sich aus irgendeinem Grund an der Seite um Aviendha herum versammelt und diskutierten ernsthaft. Rhuarc sprach ein paar leise Worte mit einem seiner Roten Schilde, einem Burschen mit grünen Augen und einem Gesicht, das aussah, als habe man damit Zaunpfosten in den Boden geschlagen. Der Mann wandte sich um und lief schnell auf die ankommenden Taardad zu.