»Habt Ihr das erwartet?« fragte Rhuarc Rand, sobald der Mann davongeeilt war. »Habt Ihr deshalb den ganzen Clan zusammenrufen lassen?« »Nicht genau das, Rhuarc.« Die Shaido begannen, sich rechts und links vor einem schmalen Durchgang in den Felsen aufzustellen und sich zu verschleiern. »Aber Couladin kann ja gar keinen anderen Grund gehabt haben, sich in der Nacht mit seinen Leuten fortzuschleichen, als eben schnell einen anderen Ort zu erreichen, nun, und welcher Ort wäre geeigneter, um mir Schwierigkeiten zu bereiten, als dieser hier? Sind die anderen bereits im Alcair Dal versammelt? Warum?« »Die Gelegenheit für die Häuptlinge, sich hier zu treffen, kann man nicht versäumen, Rand al'Thor. Da diskutiert man Grenzprobleme, Weiderechte, ein Dutzend Dinge. Wasser. Wenn sich zwei Aiel aus verschiedenen Clans treffen, dann sprechen sie über Wasser. Drei aus drei verschiedenen Clans, und es geht um Wasser und Weiderechte.« »Und vier?« fragte Rand. Fünf Clans befanden sich bereits hier, und mit den Taardad waren es sechs.
Rhuarc zögerte einen Augenblick und packte unbewußt einen seiner Kurzspeere. »Vier werden den Tanz der Speere tanzen. Doch hier sollte es anders sein.« Die Taardad machten den Weisen Frauen Platz, die mit umgebundenen Kopftüchern herankamen. Moiraine, Lan und Egwene ritten hinterher. Egwene und die Aes Sedai machten es den Aielfrauen mit ihren Kopftüchern nach und hatten sich weiße Tücher um die Köpfe gewickelt. Auch Mat ritt heran, doch allein und abseits der anderen. Der Speer mit dem schwarzen Schaft lag quer über seinem Sattel. Sein breitrandiger Hut warf Schatten auf sein Gesicht. Er betrachtete das, was vor ihnen lag.
Der Behüter nickte in sich hinein, als er die Shaido sah. »Das könnte blutig werden«, sagte er leise. Sein schwarzer Hengst rollte die Augen in Richtung von Rands Apfelschimmel. Nicht mehr als das, und Lan blickte ja konzentriert zu den Aielreihen am Durchgang hinüber, und trotzdem hatte er es wahrgenommen und tätschelte beruhigend den Hals Mandarbs. »Aber jetzt nicht, glaube ich.« »Nicht jetzt«, stimmte Rhuarc zu.
»Wenn Ihr mir nur... gestatten würdet, mit Euch zusammen hineinzugehen.« Abgesehen von einer leichten Schwankung klang Moiraines Stimme so würdevoll wie immer. Kühle Ruhe lag über ihren alterslosen Zügen, doch ihre dunklen Augen blickten Rand an, als könne ihr Blick allein ihn zum Nachgeben zwingen.
Amys' langes, helles Haar, das unter ihrem Kopftuch hervorquoll, schwang mit, als sie den Kopf energisch schüttelte. »Diese Entscheidung steht ihm nicht zu, Aes Sedai. Das ist Sache der Häuptlinge, Sache der Männer. Wenn wir Euch jetzt nach Alcair Dal hineinlassen, wenn sich die Weisen Frauen das nächstemal treffen oder auch die Dachherrinnen, dann wird auch irgendein Clanhäuptling seine Nase hineinstecken wollen. Sie glauben, wir mischten uns in ihre Angelegenheiten ein, und dafür wollen sie sich auch in unsere einmischen.« Sie warf Rhuarc ein kurzes Lächeln zu, wohl, um ihm zu zeigen, daß er nicht gemeint sei. Die ausdruckslose Miene ihres Mannes sagte Rand, er sei anderer Meinung.
Melaine raffte ihren Schal unter dem Kinn zusammen und sah geradewegs Rand an. Wenn sie auch Moiraine nicht beipflichtete, mißtraute sie doch seinen Entscheidungen. Er hatte kaum geschlafen, seit sie die Kaltfelsenfestung verlassen hatten. Falls sie in seinen Träumen herumgeschnüffelt hatten, hatten sie nur Alpträume miterlebt.
»Seid vorsichtig, Rand al'Thor«, sagte Bair, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Ein übermüdeter Mann begeht Fehler. Heute könnt Ihr euch keine Fehler erlauben.« Sie zog ihren Schal um die mageren Schultern und ihre dünne Stimme erklang nun beinahe zornig: »Wir können es uns nicht leisten, daß Ihr Fehler begeht. Die Aiel können es sich nicht leisten.« Die Ankunft weiterer Reiter auf dem Hügelkamm hatte die Aufmerksamkeit wieder auf sie gelenkt. Zwischen den Buden hatten sich mehrere hundert Aiel, Männer im Cadin'sor und langhaarige Frauen in Rock und Bluse und mit dem üblichen Kopftuch, versammelt und beobachteten gespannt das Geschehen. Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder abgelenkt, als Kaderes staubiger weißer Wohnwagen mit seinem Mauleselgespann ein Stück weiter zur Rechten erschien. Der schwere, in Beige gekleidete Händler saß auf dem Kutschbock und neben ihm Isendre, ganz in weißer Seide mit einem dazu passenden Sonnenschirm. Keilles Wagen folgte. Natael führte an ihrer Seite die Zügel. Dann kamen die Planwagen und schließlich noch die drei großen Wasserbehälter, die wie riesige Fässer auf Rädern hinter ihren langen Maultiergespannen einherrumpelten. Sie blickten Rand an, als die Wagen mit quietschenden, lange nicht mehr geschmierten Achsen vorbeischwankten: Kadere und Isendre, Natael im Flickenumhang des Gauklers, Keilles massiger, schneeweiß gekleideter Körper mit einem weißen Spitzentuch auf ihren Elfenbeinkämmen. Rand tätschelte Jeade'ens stolz geschwungenen Hals. Männer und Frauen strömten in immer größerer Zahl drunten aus dem Markt und liefen den sich nähernden Wagen entgegen. Die Shaido warteten. Bald. Bald.
Egwene führte ihre graue Stute näher an Jeade'en heran. Der Apfelschimmel versuchte, die Stute mit der Nase zu stupsen und bekam dafür prompt einen leichten Biß ab. »Du hast mir keine Chance gegeben, mit dir zu sprechen, seit wir die Kaltfelsenfestung verlassen haben, Rand.« Er sagte nichts. Sie war jetzt eine Aes Sedai, und das nicht nur, weil sie sich selbst als solche bezeichnete. Er fragte sich, ob auch sie in seinen Träumen spioniert habe. Ihr Gesicht wirkte angespannt und ihre dunklen Augen müde. »Ziehe dich nicht so in dich selbst zurück, Rand. Du kämpfst doch nicht allein. Auch andere kämpfen auf deiner Seite.« Mit gerunzelter Stirn mied er ihren Blick. Zuerst dachte er an Emondsfeld und Perrin, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß sie wisse, wohin Perrin gegangen war. »Was meinst du damit?« fragte er schließlich.
»Ich kämpfe für Euch«, sagte Moiraine, bevor Egwene den Mund aufbekam, »genau wie Egwene.« Die beiden Frauen tauschten einen kurzen Blick. »Es gibt Menschen, die für Euch kämpfen, ohne es zu wissen, und Ihr kennt sie nicht einmal. Ihr erkennt nicht, was es bedeutet, das Gewebe eines Zeitalters zu verändern, oder? Die Wellen, die Eure Handlungen auslösen, die Eure bloße Existenz auslöst, breiten sich durch das Muster aus und verändern das Gewebe von Lebensfäden, deren Ihr niemals gewahr werdet. Der Kampf ist ganz gewiß nicht nur Eurer. Doch Ihr steht im Herzen dieses Gewebes im Muster. Solltet Ihr versagen und fallen, dann fällt alles und vergeht. Da ich nicht mit Euch ins Alcair Dal gehen kann, nehmt wenigstens Lan mit. Ein weiteres Augenpaar, das Euch den Rücken decken kann.« Der Behüter wandte sich leicht im Sattel um und sah sie finster an. Da die Shaido verschleiert und zum Töten bereit waren, wollte er sie nicht gern allein lassen.
Rand glaubte nicht, daß er diesen Blick zwischen den beiden hatte bemerken sollen. Also hatten sie ein Geheimnis vor ihm. Egwene hatte wirklich Aes-Sedai-Augen, dunkel, und nichts war davon abzulesen. Aviendha und die Töchter hatten sich wieder zu ihm gesellt. »Laßt Lan bei Euch bleiben, Moiraine. Meine Ehrengarde sind die Far Dareis Mai.«
Moiraines Mundwinkel verzogen sich leicht, aber was die Töchter betraf, hatte er wohl genau das Richtige gesagt. Adelin und die anderen grinsten breit.