Behüter eilten vorbei und schenkten den beiden Frauen keinerlei Aufmerksamkeit. Diese Männer bewegten sich mit der Grazie pirschender Wölfe. Ihre Schwerter schienen ihre Gefährlichkeit noch zu unterstreichen. Aber für Min hatten sie blutige Gesichter oder trugen klaffende Wunden. Schwerter und Speere tanzten bedrohlich um ihre Köpfe. Ihre Auren blitzten wild auf, tanzten flackernd am Abgrund des Tods. Sie sah tote Männer umhergehen, wußte, sie würden am gleichen Tag sterben wie die Aes Sedai im Foyer oder höchstens einen Tag später. Selbst einige der Bediensteten, Männer und Frauen mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust, die geschäftig ihren Aufgaben nachgingen, trugen Anzeichen von Gewalt. Eine Aes Sedai, die sie ganz kurz in einem Seitengang erspähte, schien Ketten zu tragen, und eine andere, die den Korridor vor Min und ihrer Führerin überquerte, trug deutlich zu erkennen ein silbernes Halsband. Min stockte der Atem, als sie das sah. Sie hätte am liebsten geschrien.
»Das wirkt wohl alles überwältigend auf jemanden, die es nie zuvor gesehen hat«, sagte Sahra, die sich erfolglos bemühte, das alles so selbstverständlich klingen zu lassen, als spreche sie über ihr Heimatdorf. »Aber Ihr seid hier in Sicherheit. Die Amyrlin wird schon alles in Ordnung bringen.« Ihre Stimme quiekste ein wenig, als sie die Amyrlin erwähnte.
»Licht, hoffentlich kann sie das«, murmelte Min. Die Novizin lächelte sie an. Es sollte wohl beruhigend wirken.
Als sie schließlich das Vorzimmer zu den Arbeitsräumen der Amyrlin erreichten, fühlte Min sich sterbenselend, und sie trat Sahra fast auf die Fersen. Nur weil sie ja vorgeben mußte, hier fremd zu sein, rannte sie nicht voraus.
Ein Türflügel zu den Gemächern der Amyrlin öffnete sich, und ein junger Mann mit rotgoldenem Haar trat heraus. Er prallte fast mit Min und ihrer Begleiterin zusammen. Hochgewachsen und kräftig, angetan mit einem blauen, reich bestickten Mantel mit Gold an Ärmeln und Kragen, so war Gawyn aus dem Hause Trakand, der älteste Sohn der Königin Morgase von Andor: jeder Zoll ein stolzer junger Lord. Ein wütender junger Lord. Sie hatte keine Zeit, den Kopf zu senken. Er blickte direkt unter ihre Kapuze in ihr Gesicht.
Vor Überraschung riß er die Augen auf, doch dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen aus blauem Eis. »Also seid Ihr zurück. Wißt Ihr vielleicht, wohin meine Schwester und Egwene gegangen sind?« »Sind sie nicht hier?« Min vergaß alles und wurde von Panik ergriffen. Bevor ihr klar wurde, was sie tat, packte sie ihn an den Ärmeln, sah ihm eindringlich in die Augen und drängte ihn einen Schritt zurück. »Gawyn, sie haben sich schon vor Monaten auf den Weg zurück zur Burg gemacht! Elayne und Egwene und auch Nynaeve. Mit Verin Sedai und... Gawyn, ich... ich... « »Beruhige dich«, sagte er und löste sanft ihre Hände von seinen Ärmeln. »Licht! Ich wollte dir keine Angst einjagen. Sie sind sicher angekommen. Und sie sagten kein Wort darüber, wo sie gewesen sind und warum. Jedenfalls nicht zu mir. Ich glaube, es besteht auch wenig Hoffnung, daß du es mir sagen wirst, oder?« Sie glaubte, ein nichtssagendes Gesicht zu machen, doch er sah sie kurz an und sagte dann: »Das dachte ich mir. An diesem Ort gibt es mehr Geheimnisse, als... Sie sind schon wieder verschwunden. Und Nynaeve mit ihnen.« Nynaeves Namen fügte er beinahe beiläufig hinzu. Sie mochte eine von Mins Freundinnen sein, aber ihm lag nichts an ihr. Seine Stimme wurde wieder rauher und klang mit jeder Sekunde ärgerlicher. »Wieder, ohne ein Wort zu sagen. Kein Wort! Angeblich befinden sie sich auf irgendeinem Bauernhof, um ihre Strafe für ihr Weglaufen abzuarbeiten, aber ich kann einfach nicht herausbekommen, wo! Die Amyrlin gibt mir keine einzige vernünftige Antwort.« Min zuckte zusammen. Einen Moment lang hatten Spuren getrockneten Blutes sein Gesicht zu einer Maske des Schreckens gemacht. Das war wie ein doppelter Hammerschlag für sie. Ihre Freundinnen waren weg. Es hatte ihre Aufgabe sehr erleichtert, zu wissen, daß sie hier auf sie warteten. Und nun wußte sie: Gawyn würde an dem Tag verwundet werden, an dem die Aes Sedai starben.
Trotz alledem, was sie gesehen hatte, seit sie die Burg betreten hatte, trotz ihrer Furcht hatte nichts davon sie persönlich getroffen — bis jetzt. Eine Katastrophe, die die Burg bedrohte, würde auch das ganze Land um Tar Valon bedrohen, doch sie gehörte der Burg nicht an und würde ihr auch niemals angehören. Aber Gawyn war jemand, den sie kannte, jemand, den sie gut leiden konnte, und er würde tiefer verwundet werden, als ihr das Blut verraten hatte, tiefer als durch bloße Wunden seines Fleisches. Nun wurde ihr erst richtig klar, daß die Katastrophe, wenn sie die Burg erfaßte, nicht nur irgendwelche entfernten Aes Sedai treffen würde, Frauen, denen sie sich niemals nahe fühlen konnte, sondern genauso ihre Freunde. Sie gehörten zur Burg.
Auf gewisse Weise war sie ja froh darüber, daß sich Egwene und die anderen nicht mehr hier befanden, froh, sie nicht ansehen und vielleicht Anzeichen des Todes an ihnen entdecken zu müssen. Und doch wollte sie ihre Freundinnen sehen und sichergehen, daß sie nichts entdeckte oder wenn schon, dann wenigstens Anzeichen für ihr Überleben. Wo, beim Licht, waren sie? Wohin waren sie gegangen? Da sie die drei gut genug kannte, hielt sie es für möglich, daß Gawyn nichts wußte, weil sie nicht gewünscht hatten, daß er Bescheid wußte. Das war es bestimmt.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, wo sie sich befand und warum und daß sie nicht allein war mit Gawyn. Sahra schien vergessen zu haben, daß sie Min zur Amyrlin bringen sollte. Sie schien überhaupt alles vergessen zu haben, bis auf den jungen Lord, dem sie schöne Augen machte, ohne von ihm bemerkt zu werden. Trotzdem hatte es keinen Zweck mehr, vorzutäuschen, daß sie eine Fremde in der Burg sei. Sie stand vor der Tür der Amyrlin und nichts konnte sie jetzt noch aufhalten.
»Gawyn, ich weiß nicht, wo sie stecken, aber falls sie wirklich zur Strafe auf einem Bauernhof arbeiten, sind sie vermutlich verschwitzt und bis zu den Hüften mit Schlamm verspritzt und du wärst der letzte, von dem sie so gesehen werden möchten.« In Wirklichkeit war ihr keineswegs leichter ums Herz als Gawyn. Zuviel war geschehen und zuviel geschah noch immer, was mit ihnen oder mit ihr selbst zu tun hatte. Aber natürlich war es nicht unmöglich, daß sie zur Strafe fortgeschickt worden waren. »Du hilfst ihnen bestimmt nicht, indem du den Zorn der Amyrlin erregst.« »Ich weiß nicht, ob sie wirklich auf einem Bauernhof sind. Ob sie überhaupt noch leben. Warum dieses ganze Versteckspiel und diese Ausweichmanöver, wenn sie bloß Unkraut jäten? Wenn meiner Schwester etwas passiert... Oder Egwene... « Er blickte finster auf seine Stiefelspitzen herab. »Ich soll schließlich auf Elayne aufpassen. Wie kann ich sie beschützen, wenn ich nicht einmal weiß, wo sie ist?« Min seufzte. »Glaubst du, daß man auf sie aufpassen muß? Auf eine von ihnen?« Aber falls die Amyrlin sie irgendwohin geschickt hatte, brauchten sie möglicherweise wirklich einen Aufpasser. Die Amyrlin war durchaus fähig, eine Frau mit lediglich einer Rute bewaffnet in eine Bärenhöhle zu schicken, falls es ihren Zwecken diente. Und sie würde von der Frau auch noch erwarten, entweder mit einem Bärenfell zurückzukommen, oder den Bären an der Leine zu führen, so wie ihr aufgetragen worden war. Aber wenn sie das Gawyn sagte, würde es nur doch seinen Zorn und seine Sorgen schüren. »Gawyn, sie haben ihren Eid auf die Burg geleistet. Sie werden dir nicht dankbar sein, wenn du dich einmischst.« »Ich weiß, Elayne ist kein Kind mehr«, sagte er ungeduldig, »auch wenn sie manchmal wie eines davonläuft und dann wiederkommt und die Aes Sedai spielen will. Aber sie ist schließlich meine Schwester und außerdem noch die Tochter-Erbin von Andor. Sie wird Mutters Nachfolgerin als Königin. Andor braucht sie sicher und wohlbehalten, wenn sie den Thron besteigen soll, und nicht statt dessen wieder einen Streit um die Nachfolge.« Die Aes Sedai spielen? Offensichtlich war ihm die Tragweite des Talents seiner Schwester nicht klar. Die Tochter-Erbinnen von Andor waren seit Menschengedenken zur Ausbildung in die Burg gesandt worden, aber Elayne war die erste, die befähigt war, zur Aes Sedai erhoben zu werden, und zu einer mächtigen noch dazu. Sehr wahrscheinlich war ihm auch nicht klar, daß Egwene mindestens genauso stark war.