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»Also bist du doch Elmindreda, oder?« sagte Leane knapp. Sie sprach immer in kurzen, knappen Sätzen. »Ich muß schon sagen, in diesem Kleid siehst du auch eher so aus als in deinem normalen... Kostüm.« »Nur Min, Leane Sedai, wenn es Euch recht ist.« Min brachte das mit steinernem Gesicht heraus, aber es fiel ihr schwer, die Aes Sedai nicht anzufunkeln. Im Tonfall der Behüterin hatte zuviel Spott gelegen. Wenn ihre Mutter sie schon nach jemandem aus einer Legende nennen mußte, warum dann ausgerechnet nach einer Frau, die die meiste Zeit über irgendwelchen Männern schöne Augen gemacht hatte oder sie dazu brachte, Lieder über ihre Augen oder ihr Lächeln zu komponieren.

»Also gut. Min. Ich werde auch nicht fragen, wo du gewesen bist oder warum du in einem Kleid zurückkehrst und offensichtlich der Amyrlin eine Frage stellen willst. Jedenfalls jetzt nicht.« Ihrem Gesicht war anzumerken, daß sie diese Fragen später stellen würde und auch Antworten erwartete. »Ich schätze, die Mutter weiß, wer diese Elmindreda ist? Natürlich. Ich hätte das wissen müssen, als sie befahl, dich sofort herzubringen, und noch dazu allein. Das Licht mag wissen, warum sie sich mit dir abgibt.« Sie unterbrach ihren Redefluß und machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist los, Mädchen? Bist du krank?« Min gab sich Mühe, ihre Gesichtszüge zu glätten. »Nein. Nein, es geht mir gut.« Einen Augenblick lang hatte die Behüterin ihre Maske durchschaut, eine Maske des Schreckens. »Darf ich hineingehen, Leane Sedai?« Leane musterte sie noch einen Moment lang und bedeutete ihr dann mit einem Ruck ihres Kopfes, zum inneren Arbeitszimmer zu gehen. »Hinein mit dir.« Mins Eifer, ihrem Auftrag Folge zu leisten, hätte auch die gnadenloseste Aufseherin mit Zufriedenheit erfüllt.

Der Arbeitsraum der Amyrlin war im Laufe der Jahrhunderte von vielen großen und mächtigen Frauen benützt worden, und die Andenken daran beherrschten nun sein Bild. Der große offene Kamin war aus dem Goldmarmor Kandors gefertigt. Jetzt brannte kein Feuer darin. Die Wände waren mit einem hellen, eigenartig marmorierten Holz getäfelt, das wohl eisenhart war, aber dennoch Schnitzereien von Fabeltieren und Vögeln mit phantastischem Federkleid aufwies. Diese Täfelungen waren vor weit mehr als tausend Jahren aus den geheimnisvollen Ländern jenseits der Aiel-Wüste hergebracht worden, und der Kamin war mehr als doppelt so alt. Der geschliffene Sandstein des Fußbodens stammte aus den Verschleierten Bergen, und hohe Bogenfenster gaben den Blick auf einen Balkon frei. Wie Perlen funkelten unzählige Glitzerpunkte im Stein der Fensterrahmen, der aus den Überresten einer während der Zerstörung der Welt untergegangenen Stadt im Meer der Stürme gerettet worden war. Niemand hatte je desgleichen irgendwo sonst entdeckt.

Die augenblickliche Benützerin, Siuan Sanche, war allerdings als Tochter eines Fischers in Tear geboren worden, und die Möbel, die sie bevorzugte, waren einfach, wenn auch solide gebaut und auf Hochglanz poliert. Sie saß auf einem wuchtigen Stuhl an einem großen Tisch, der auch in einem Bauernhaus hätte stehen können. Der einzige andere Stuhl im Raum, genauso schmucklos und gewöhnlich zur Seite gestellt, stand nun auf einer kleinen, einfachen, in Blau, Braun und Gold gehaltenen und offensichtlich in Tear geknüpften Brücke direkt vor dem Tisch. Ein halbes Dutzend geöffneter Bücher lag auf verschiedenen Lesepulten im Raum verteilt. Das war alles. Über dem Kamin hing eine Zeichnung von winzigen Fischerbooten, die zwischen den hohen Schilfhalmen in den Fingern des Drachen bei der Arbeit waren, so wie ihr Vater einst ausgefahren war.

Auf den ersten Blick wirkte auch Siuan Sanche selbst, trotz ihrer glatten Aes-Sedai-Gesichtszüge, genauso einfach wie ihre Möbel. Sie war durchaus kräftig, nicht schön, sah aber doch recht gut aus, und das einzig Auffallende an ihrer Kleidung war die breite Stola des Amyrlin-Sitzes in den sieben Farbstreifen aller Ajahs. Wie bei jeder Aes Sedai war es nicht möglich, ihr Alter abzuschätzen. Jedenfalls zeigte sich in ihrem dunklen Haar noch keine Andeutung von Grau. Der scharfe Blick aus ihren blauen Augen schien alles zu durchdringen und die Kinnpartie sagte etwas über die Entschlußkraft der jüngsten Frau aus, die je für den Amyrlin-Sitz erwählt worden war. Seit mehr als zehn Jahren hatte Siuan Sanche selbst Herrscher herbeizitiert, auch die mächtigen, und sie waren gekommen, obwohl sie die Weiße Burg haßten und sich vor den Aes Sedai fürchteten.

Als die Amyrlin um den Tisch herum auf sie zuschritt, legte Min ihr Bündel weg und knickste ungeschickt, wobei sie leise fluchte, daß so etwas sein mußte. Sie wollte durchaus ihren Respekt bezeugen, wie es einer Frau wie Siuan Sanche gegenüber selbstverständlich war, aber die Verbeugung, die sie gewöhnlich machte, hätte in einem Kleid ausgesprochen dumm gewirkt. Nun ja, und mit dem Knicksen hatte sie keine Erfahrung.

Auf halbem Weg in die Hocke erstarrte sie mit bereits ausgebreitetem Rock. Siuan Sanche stand wohl so würdevoll wie eine Königin vor ihr, doch einen Augenblick lang lag sie gleichzeitig nackt auf dem Fußboden. Abgesehen von der Tatsache, daß sie nichts anhatte, war an der Vision noch etwas Eigenartiges, doch bevor Min sich darüber klar werden konnte, was daran so seltsam war, verschwand das Bild wieder. Die Vision war so eindringlich gewesen wie selten eine, aber sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollte.

»Schon wieder Visionen, habe ich recht?« sagte die Amyrlin. »Nun, diese Fähigkeit kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich hätte dich gerade in jenen Monaten gebrauchen können, die du weg warst. Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht.« Sie lächelte verkrampft. »Aber wenn du so etwas noch einmal machst, lasse ich dir die Haut abziehen und mache Handschuhe daraus. Steh auf, Mädchen. Leane zwingt mir sowieso schon in einem Monat mehr zeremonielles Gehabe auf, als eine normale Frau in einem Jahr ertragen kann. Ich habe keine Zeit dafür. Heutzutage nicht. Also, was hast du gerade gesehen?« Min richtete sich langsam auf. Es war eine Erleichterung, mit jemandem zusammenzusein, die von ihrem Talent wußte, auch wenn es die Amyrlin selbst war. Sie mußte das Gesehene vor der Amyrlin nicht verbergen. Im Gegenteil. »Ihr habt... Ihr habt keine Kleider getragen. Ich... ich weiß nicht, was es bedeutet, Mutter.« Siuan lachte kurz und trocken auf. »Zweifellos nehme ich mir einen Liebhaber. Aber dafür habe ich leider auch keine Zeit. Es ist keine Zeit, den Männern auch nur zuzuzwinkern, wenn du das Boot leerschöpfen mußt.« »Vielleicht«, sagte Min bedächtig. Es konnte so etwas bedeuten, aber sie bezweifelte das. »Ich weiß es einfach nicht. Aber, Mutter, ich habe Visionen gehabt, seit ich die Burg betrat. Etwas Schlimmes wird geschehen, etwas Schreckliches!« Sie begann bei den Aes Sedai im Foyer und berichtete alles, was sie gesehen hatte, alles, was sie an Bedeutungen erkannt hatte, soweit sie sich sicher sein konnte. Sie behielt das meiste dessen, was Gawyn gesagt hatte, für sich. Sie mußte nicht erst ihn ermahnen, daß er die Amyrlin nicht ärgern solle, wenn sie anschließend eben dieses selbst tat. Den Rest berichtete sie so nüchtern wie möglich. Einiges von ihrer Angst wurde trotzdem deutlich, als sie alles wieder vor sich sah. Ihre Stimme zitterte hörbar, noch bevor sie fertig war.

Der Gesichtsausdruck der Amyrlin änderte sich nicht. »Also hast du mit dem jungen Gawyn gesprochen«, sagte sie, als Min geendet hatte. »Na, ich glaube, ich kann ihn dazu bringen, daß er den Mund hält. Und wenn ich mich richtig an Sahra erinnere, könnte das Mädchen durchaus für eine Weile auf dem Land arbeiten. Wenn sie einen Gemüsegarten bearbeitet, kann sie keine Gerüchte verbreiten.« »Ich verstehe nicht«, sagte Min. »Warum soll Gawyn den Mund halten? Worum geht es? Ich habe ihm nichts gesagt. Und Sahra...? Mutter, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Aes Sedai und Behüter werden sterben! Das dürfte bedeuten, daß ein Kampf stattfinden wird. Und wenn Ihr nicht eine Menge Aes Sedai und Behüter irgendwohin schickt — und auch Diener, denn ich habe auch tote und verwundete Diener gesehen —, wenn Ihr also das nicht tut, dann wird dieser Kampf hier stattfinden! In Tar Valon!« »Hast du das gesehen?« wollte die Amyrlin wissen. »Einen Kampf? Weißt du das sicher, oder rätst du nur?« »Was könnte es sonst sein? Mindestens vier Aes Sedai sind so gut wie tot. Mutter, ich habe seit meiner Rückkehr nur neun von Euch gesehen, und vier davon werden sterben! Und die Behüter... Was könnte es sonst bedeuten?« »Da gibt es mehr Möglichkeiten, als mir lieb sind«, sagte Siuan grimmig. »Wann? Wie lange, bis das... Ereignis... eintritt?« Min schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das meiste wird sich innerhalb eines oder zweier Tage abspielen, aber das kann morgen sein oder in einem oder zehn Jahren.« »Laß uns hoffen, daß es erst in zehn Jahren passiert. Wenn es morgen bereits geschieht, kann ich nicht viel dagegen unternehmen.« Min verzog das Gesicht. Nur zwei Aes Sedai außer Siuan Sanche kannten ihre Fähigkeiten: Moiraine und Verin Mathwin, die sich bemüht hatte, ihr Talent zu erforschen. Keiner wußte mehr darüber, wie es funktionierte, als sie. Nur eines war klar: Es hatte nichts mit der Einen Macht zu tun. Vielleicht hatte deshalb auch nur Moiraine akzeptiert, daß etwas ganz gewiß eintraf, wenn sie sich dessen sicher war.