Dieser Rat wurde befolgt, und es zeigte sich, daß derselbe gut war. In gerader Richtung wäre man schwerlich ohne verschiedene Schiffbrüche hinabgekommen; der Abstieg nahm weit über eine halbe Stunde in Anspruch. Ein wahres Glück, daß die Utahs so ahnungslos waren! Hätten sie ihre Verfolger bemerkt und sich im Felsenspalt festgesetzt, so wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, sie während dieses langsamen Abstieges, ohne alle Gefahr für sich, einen nach dem andern wegzuputzen.
Endlich war man unten und ordnete sich zum Eindringen in den Canon, welcher hier so schmal war, daß neben dem Wasser nur zwei Reiter Platz fanden. Voran war natürlich wieder Winnetou. Ihm folgte Old Firehand, neben welchem jetzt der Lord ritt. Dann kamen die Jäger und nachher die Rafters, welche den Ingenieur und seine Tochter zwischen sich nahmen. Der Trupp war seit dem Eagletail dadurch größer geworden, daß sich Watson, der Schichtmeister, mit noch mehreren Arbeitern angeschlossen hatte.
Gesprochen durfte nicht werden, da jeder Laut in diesem Spalte viel weiter als im Freien zu hören war. Der Hufschlag der Pferde konnte zum Verräter werden; darum war Winnetou abgestiegen und, während sein Pferd von einem Rafter geführt wurde, auf seinen weichen Mokassins den Gefährten vorangegangen.
Es war wie ein Ritt durch die Unterwelt. Vor und hinter sich den engen Spalt, unter sich den starren, steinbesäeten Felsen und das dunkle, unheimliche Wasser und rechts und links die gerade aufstrebenden Felsenwände, welche so hoch waren, daß sie den Himmel nicht sehen ließen, sondern oben zusammenzustoßen schienen. Die Luft wurde, je weiter man eindrang, desto kälter und schwerer, und das Tageslicht verwandelte sich in Dämmerung.
Und lang war der Canon, ewig lang! Zuweilen wurde er ein wenig breiter, so daß er Raum für fünf oder sechs Reiter bot; dann traten die Wände wieder so eng zusammen, daß man vor Angst, erdrückt zu werden, laut hätte aufschreien mögen. Sogar den Pferden war es nicht geheuer; sie schnaubten ängstlich und strebten schnell vorwärts, um aus dieser Enge erlöst zu werden.
Eine Viertelstunde verging und noch eine; da — unwillkürlich blieben alle halten — gab es einen Krach, als ob zehn Kanonen zugleich abgeschossen worden seien.
«Um Gottes willen, was war das?«fragte Butler, der Ingenieur.»Stürzen vielleicht die Felsen ein?«
«Ein Flintenschuß, «antwortete Old Firehand.»Der Augenblick ist da. Je ein Mann für drei Pferde bleibt zurück; die andern vor. Absteigen!«
Im Nu waren über dreißig Mann, jeder die Büchse in der Hand, auf den Füßen, um ihm zu folgen. Schon nach wenigen Schritten sahen sie Winnetou stehen, den Rücken ihnen zugekehrt und die Silberbüchse nach vorwärts zum Schusse angelegt.
«Die Waffen nieder, sonst spricht meine Zauberbüchse!«ertönte eine gewaltige Stimme; man wußte nicht, woher, ob von oben hernieder oder aus dem Erdboden heraus.
«Nieder die Waffen!«donnerte es abermals in der Sprache der Utahs, daß in dem engen Spalte aus den wenigen Silben ein ganzes Gewittergrollen wurde. Dann fielen schnell aufeinander drei Schüsse. Man hörte, daß sie aus einem und demselben Laufe kamen. Das mußte der Henrystutzen Old Shatterhands sein, dessen Knall hier allerdings die Stärke eines Kanonenschusses hatte. Gleich darauf blitzte auch die Silberbüchse Winnetous auf. Die Getroffenen schrieen, und dann folgte ein Geheul, als ob alle Scharen der Hölle losgelassen seien.
Old Firehand hatte den Apachen erreicht und konnte nun sehen, was und wen er vor sich hatte. Der Spalt erweiterte sich auf eine kurze Strecke und bildete einen Raum, welchen man am besten ein Felsengemach nennen konnte. Es war von rundlicher Gestalt und so groß, daß vielleicht hundert Reiter in demselben Platz finden konnten. Das Wasser lief am linken Rande desselben hin. Auch hier herrschte Dämmerung; doch konnte man die Schar der Utahs sehen.
Die fünf vorausgesandten Krieger hatten einen großen Fehler begangen. Sie waren hier halten geblieben, um die Ihrigen zu erwarten. Hätten sie das nicht gethan, so wären die jenseits postierten vier Weißen gezwungen gewesen, sie anzureden, und sie hätten wohl rückwärts fliehen können, um die Ihrigen zu warnen. Da sie aber so lange gewartet hatten, bis diese nachkamen, so waren sie nun alle eingeschlossen. Drüben stand Old Shatterhand mit dem erhobenen Henrystutzen, und neben ihm kniete der Hobble-Frank, damit Davy und Jemmy über ihn hinwegschießen könnten. Die Roten hatten ihre Waffen auf die Aufforderung des ersteren nicht sofort gesenkt, und darum waren die Schüsse gefallen. Fünf tote Utahs lagen am Boden. Die andern konnten kaum an Gegenwehr denken; sie hatten genug zu thun, ihre Pferde zu bändigen, welche durch den außerordentlichen Wiederhall der Schüsse scheu geworden waren.
«Werft die Waffen weg, sonst schieße ich wieder!«ertönte Old Shatterhands Stimme abermals.
Und von der andern Seite her erschallte es:»Hier steht Old Firehand. Ergebt euch, wenn ihr euer Leben retten wollt!«
Und neben diesem rief der Apache:»Wer kennt Winnetou, den Häuptling der Apachen? Wer sein Gewehr gegen ihn erhebt, der verliert seinen Skalp. Howgh!«
Waren die Utahs der Meinung gewesen, den Feind nur vor sich zu haben, so sahen sie jetzt, daß ihnen der Rückweg auch verschlossen war. Dort stand die mächtige Gestalt Old Firehands und die stolz-schlanke des berühmten Apachenhäuptlings. Neben ihnen hielt, da sonst kein Raum vorhanden war, die Tante Droll mit angeschlagenem Gewehr im Wasser, und zwischen diesen dreien sah man verschiedene Gewehrläufe ragen.
Kein einziger der Utahs wagte, sein Gewehr wieder zu erheben. Sie starrten nach vorn und nach hinten und wußten nicht, was sie thun sollten.
Widerstand leisten wäre ihr Verderben gewesen, das sahen sie ein; aber sich so schnell und ohne alle Verhandlung ergeben, das widerstrebte ihnen. Da sprang Droll aus dem Wasser, schritt bis zum Häuptling vor, hielt ihm den Lauf des Gewehres an die Brust und rief ihm zu:»Wirf das Gewehr weg, sonst drücke ich los!«
Der» große Wolf «hielt den Blick starr auf die dicke, fremdartige Gestalt geheftet, als ob er ein Gespenst vor sich sehe; die Finger seiner Rechten öffneten sich und ließen das Gewehr fallen.
«Den Tomahawk auch und das Messer!«
Der Häuptling griff in den Gürtel, nahm die beiden genannten Waffen heraus und warf sie fort.
«Binde deinen Lasso los!«
Auch diesem Befehle gehorchte der» große Wolf«. Droll nahm den Lasso und band mit demselben die Füße des Häuptlings unter dem Bauche seines Pferdes zusammen. Dann nahm er dieses letztere beim Zügel, führte es auf die Seite und rief dem Gunstick-Uncle, welcher hinter Old Firehand stand, zu:»Komm her, Onkel, und fessele ihm die Hände!«
Der Uncle kam steif und gravitätisch herbeigeschritten und antwortete:»An den Gürtel will ich hinten — ihm die beiden Hände binden.«
Er schwang sich hinter dem» großen Wolf «auf das Pferd, machte seine Worte zur That und sprang dann wieder ab. Es war, als habe der Häuptling gar nicht gewußt, was mit ihm vorging; er befand sich wie im Traume. Sei Beispiel wirkte. Die Seinen ergaben sich nun auch in ihr Schicksal; sie wurden ebenso entwaffnet und gebunden wie er, und das ging außerordentlich schnell von statten, da alle Weißen nur darauf bedacht waren, zu thun, was der Augenblick erforderte.
Gern hätte der Hobble-Frank Winnetou begrüßt; Davy und Jemmy hatten ganz dasselbe Verlangen; aber man durfte jetzt nicht an solche Herzensangelegenheiten denken, sondern mußte die Erledigung derselben für später aufheben. Es galt vor allen Dingen aus dem Canon zu kommen. Darum wurde, als der letzte Rote gebunden war und man die erbeuteten Waffen aufgelesen hatte, sofort der Weiterritt angetreten. Voran ritten die Jäger, dann kamen die Roten, und den Beschluß bildeten die Rafters. Winnetou und Old Firehand ritten mit Old Shatterhand voran. Sie hatten ihm still die Hand gegeben, die einzige Begrüßungsart, welche sie einstweilen für nötig hielten. Gerade vor den Gefangenen ritten zwei, welche sich viel näher standen, als sie dachten, nämlich die Tante Droll und der Hobble-Frank. Keiner sagte ein Wort zu dem andern. Nach einiger Zeit nahm Droll die Füße aus den Steigbügeln, stieg im Reiten auf den Rücken des Pferdes und setzte sich verkehrt in den Sattel.