Sie bewegten sich am linken Rande des Thales. Die Feuer lagen mehr gegen die Mitte. Vielleicht hatten die Roten der Felswand nicht getraut. Daß sich von derselben leicht ein Stück lösen konnte, bewiesen die Trümmer, welche, Bäume zerschmetternd, herniedergestürzt waren und sich tief in die Erde eingewühlt hatten. Die drei Männer kamen rasch vorwärts. Schon befanden sie sich parallel den vordersten Feuern. Links von ihnen, und noch weiter zurück, brannte eine sehr helle, hohe Flamme abgesondert von den andern. An derselben saßen fünf Häuptlinge, wie aus den Adlerfedern, welche ihre Schöpfe schmückten, zu erkennen war.
Eben erhob sich einer von ihnen. Er hatte den Kriegsmantel abgeworfen. Sein nackter Oberleib war, wie Gesicht und Arme, mit dicker, grellgelber Farbe bestrichen.»T'ab-wahgare!«flüsterte Winnetou.»Er ist der Häuptling der Capote-Utahs und besitzt die Stärke eines Bären. Seht seinen Leib! Welch dicke, starke Muskeln, und welch eine breite Brust!«
Der Utah winkte einem zweiten Häuptlinge, welcher auch aufstand. Dieser war länger als der vorige und wohl nicht weniger stark.
«Das ist Tsu-in-kuts«, erklärte Old Shatterhand.»Er trägt diesen Namen, weil er einst vier Büffelstiere mit vier Pfeilschüssen getötet hat.«
Die beiden Häuptlinge wechselten einige Worte miteinander und entfernten sich dann vom Feuer. Vielleicht wollten sie Wachen inspizieren. Sie vermieden die andern Feuer und näherten sich infolge dessen mehr der Felsenwand.
«Ah!«meinte Old Shatterhand.»Sie kommen hier nahe vorüber. Was meinst du, Firehand? Wollen wir sie nehmen?«
«Bei lebendigem Leibe?«
«Natürlich!«
«Das wäre ein Coup! Schnell nieder auf die Erde; du den ersten und ich den zweiten!«
Die beiden Utahs kamen näher. Der eine ging hinter dem andern. Da tauchten plötzlich zwei Gestalten hinter ihnen auf — zwei gewaltige Fausthiebe, und die Getroffenen stürzten zu Boden.
«Gut so!«flüsterte Old Firehand.»Die haben wir. Nun schnell in unser Versteck mit ihnen!«
Jeder nahm den seinigen auf. Winnetou erhielt die Weisung, zu warten, und dann eilten die beiden dem verborgenen Felsensaale zu. Dort lieferten sie die neuen Gefangenen ab, ließen sie binden und knebeln und kehrten dann zu Winnetou zurück, nicht aber ohne zuvor den Befehl zu geben, daß keiner der Gefährten das Versteck verlassen dürfe, bevor sie zurückgekehrt seien, möge auch geschehen, was da wolle.
Winnetou stand noch an derselben Stelle. Es war jetzt weniger nötig, die drei Häuptlinge zu belauschen, als vielmehr den Ort ausfindig zu machen, an welchem sich der rote Cornel mit seiner Sippe befand. Um zu diesem Ziele zu gelangen, mußte das ganze Lager umschlichen werden. Die drei kühnen Männer schritten also immer weiter an der Felsenwand hin, die Feuer alle zu ihrer Linken lassend.
Nach dieser Seite hin konnten sie gut sehen; nach vorn war es dunkel; da galt es also, vorsichtig zu sein. Wo das Auge nicht ausreichte, mußte die tastende Hand gebraucht werden. Winnetou huschte, wie gewöhnlich, voran. Plötzlich blieb er stehen und ließ ein fast zu lautes, erschrockenes» Uff!«hören. Die andern beiden hielten ihre Schritte auch an und lauschten gespannt. Als alles ruhig blieb, fragte Old Shatterhand leise:»Was gibt es?«
«Ein Mensch, «antwortete der Apache.
«Wo?«
«Hier bei mir, vor mir, in meiner Hand.«
«Halte ihn fest! Laß ihn nicht schreien!«
«Nein. Er kann nicht schreien; er ist tot.«
«So hast du ihn erdrosselt?«
«Er war schon tot; er hängt an dem Pfahle.«
«Herrgott! Wohl am Marterpfahle?«
«Ja. Sein Skalp fehlt; sein Leib ist voller Wunden. Er ist kalt, und meine Hände sind naß vom Blute.«
«So sind die Weißen schon tot, und hier ist der Marterplatz. Suchen wir einmal!«
Sie tasteten um sich und fanden binnen zehn Minuten gegen zwanzig schauderhaft verstümmelte Leichen, welche an Pfähle und Bäume gebunden waren.
«Entsetzlich!«stöhnte Old Shatterhand.»Ich glaubte, diese Leute noch retten zu können, wenigstens vor solchen Qualen! Gewöhnlich warten die Roten bis zum nächsten Tage; hier aber haben sie sich keine Zeit gelassen.«
«Und der Plan, die Zeichnung!«meine Old Firehand.»Die ist nun verloren.«
«Noch nicht. Wir haben die gefangenen Häuptlinge. Vielleicht können wir diese gegen die Zeichnung austauschen.«
«Wenn sie noch da und nicht etwa vernichtet ist.«
«Vernichtet? Schwerlich! Die Roten haben gelernt, die Wichtigkeit solcher Papiere einzusehen. Ein Indianer vernichtet jetzt eher alles andre als ein Papier, welches er bei einem Weißen findet, zumal wenn es nicht bedruckt, sondern beschrieben ist. Laß dir also noch nicht bange sein. Übrigens leuchtet mir ein, aus welchem Grunde man diese Kerle hier so schnell ermordet hat.«
«Nun, warum?«
«Um Platz für uns zu bekommen. Unsre Ankunft ist gemeldet worden. Wir sind noch nicht da; folglich erwartet man uns für morgen früh ganz gewiß, und kommen wir da noch nicht, so sendet man Späher nach uns aus.«
«Die Boten, welche abgesendet wurden, um unsre Ankunft zu melden, werden da sein, die Yampa-Utahs aber noch nicht, «meinte Winnetou.
«Nein, die sind noch nicht da. Es hat wohl Stunden gedauert, ehe sie es gewagt haben, unsern Rastort zu passieren und in die Felsenenge einzudringen. Vielleicht kommen sie erst morgen früh, da der letzte Teil des Weges so schlecht ist, daß er des Nachts nicht — horchen! Wahrhaftig, sie kommen; sie sind da!«
Oberhalb der Stelle, an welcher die drei standen, ließ sich plötzlich ein lautes, fröhliches Geschrei hören, welches von unten her sofort beantwortet wurde. Die Yampa-Utahs kamen trotz der Finsternis der Nacht und trotz des schlechten Weges, welcher ihnen sehr bekannt sein mußte. Das war ein Gebrüll und Geheul, daß man sich hätte die Ohren verstopfen mögen. Es wurden Brände aus den Feuern gerissen, mit denen die bereits hier Lagernden den Ankömmlingen entgegenliefen. Der Wald wurde hell und lebendig, so daß die drei in die größte Gefahr, bemerkt zu werden, gerieten.
«Wir müssen fort, «sagte Old Firehand.»Aber wohin? Vor und hinter uns ist alles voller Menschen.«
«Auf die Bäume, «antwortete Old Shatterhand.»In dem dichten Gezweig können wir warten, bis die Aufregung sich gelegt hat.«
«Gut, also hinauf! Ah, Winnetou ist schon oben!«
Ja, der Apache hatte gar nicht lange erst gefragt. Er schwang sich hinauf und versteckte sich im Blätterdach. Die beiden andern folgten seinem Beispiele, indem sie die nächsten Bäume erstiegen. Es ist keine Schande, sich gegen eine solche Übermacht zu verbergen.
Jetzt sah man beim Scheine der Feuer und der Fackeln die Yampa mit ihren Genossen kommen. Sie stiegen von den Pferden, welche fortgeführt wurden, und fragten, ob Winnetou und die Weißen angekommen und ergriffen worden seien. Diese Frage wurde mit der größten Verwunderung aufgenommen. Die Yampa wollten nicht glauben, daß die Genannten nicht angekommen seien, denn sie waren ja der Fährte derselben gefolgt. Es wurde hin und her gefragt; hundert Vermutungen tauchten auf, doch der wahre Sachverhalt blieb ein Rätsel.
Es war für die andern Utahs eine hochwichtige Nachricht, zu hören, daß Old Firehand, Old Shatterhand und Winnetou sich in der Nähe befänden. Aus den verschiedenen Ausrufungen, aus der ungeheuern Wirkung, welche diese Nachricht hervorbrachte, konnten diese drei Männer ersehen, in welch einem Rufe sie bei diesen Roten standen.
Als die Yampa erfuhren, daß über zwanzig Weiße zu Tode gemartert worden seien, glaubten sie, daß es die von ihnen Gesuchten seien, und verlangten, sie zu sehen. Man kam mit Fackeln herbei, um sie ihnen zu zeigen, und nun bot sich den drei im Laube versteckten ein Anblick, welcher bei der ungewissen, flackernden Beleuchtung ein doppelt gräßlicher war. Die Yampas erkannten, daß diese Leichen nicht die richtigen seien, und kühlten ihre Wut auf ganz unbeschreibliche Weise an denselben. Glücklicherweise war diese Scene nicht von langer Dauer; sie erlitt ein Ende, welches kein Utah für möglich gehalten hatte.