Und diese Hilfe war schon unterwegs. Winnetou hatte dem» großen Bären «in kurzen Worten erzählt, was geschehen war. Der letztere machte ein höchst bedenkliches Gesicht und meinte:»Ich habe die Navajos gewarnt. Ich riet ihnen, zu warten, bis alle ihre Krieger beisammen seien. Aber sie glaubten, daß die Utahs sich auch noch nicht vereinigt hätten, und wollten die einzelnen Haufen derselben einen nach dem andern vernichten. Nun haben sie das Schicksal erlitten, welches sie den Feinden bereiten wollten.«
«Doch nicht!«sagte Old Shatterhand.»Sie sind doch nicht vernichtet worden.«
«Meinst du. Ich denke anders. Ich kenne die Versammlungsorte der Utahs. Wenn die Navajos vom Thal der Hirsche rückwärts fliehen, müssen sie an mehreren solchen Orten vorüber und können leicht von allen Seiten eingeschlossen werden. Und selbst wenn es ihnen gelingt, in die Berge zu entkommen, so wird die Zahl der Utahs von Ort zu Ort größer werden, und es kann leicht geschehen, daß wir tausend ihrer Krieger hier am Silbersee zu sehen bekommen. Ob die Navajos diesen unter solchen Umständen erreichen, das ist sehr zweifelhaft.«
«Wie steht es dann mit dir? Werden die Utahs dich als Feind behandeln?«
«Ja.«
«So befindest du dich in der größten Gefahr.«
«Nein.«
«Wohl weil du die Timbabatschen hier hast und auch noch einige Navajos erwartest?«
«Nein; ich verlasse mich weder auf die einen noch auf die andern, sondern ganz allein auf mich selbst.«
«So begreife ich dich nicht.«
«Ich fürchte mich vor tausend Utahs nicht.«
«Und ich verstehe das nicht.«
«Ich brauche nur die Hand aufzuheben, so sind sie verloren. Ein einziger kurzer Augenblick tötet sie alle.«
«Hm! Alle?«
«Du glaubst es nicht? Ja, du kannst so etwas nicht begreifen. Ihr Bleichgesichter seid sehr kluge Männer, aber auf einen solchen Gedanken würde keiner von euch kommen.«
Er sagte das in stolzem Tone. Der Blick Old Shatterhands schweifte rund über den See, an den Bergen hin, und dann antwortete er, indem ein leises Lächeln um seine Lippen zuckte:»Du bist es aber auch nicht, welcher auf diesen Gedanken gekommen ist.«
«Nein. Wer sagt dir das?«
«Ich selbst. Wir Weißen können keinen solchen Gedanken hegen, weil wir Christen sind und den Massenmord scheuen; aber klug genug sind wir dennoch, euch in eure Seelen zu blicken.«
«Du meinst zu wissen, warum ich mich vor tausend Feinden nicht fürchte?«
«Ja.«
«Sage es!«
«Soll ich dadurch dein Geheimnis verraten?«
«Du verrätst es nicht, denn du kannst unmöglich das Richtige treffen. Es ist ein Geheimnis, welches jetzt nur noch zwei Personen kennen, ich und mein Sohn.«
«Und ich!«
«Nein! Beweise es!«
«Gut! Du tötest tausend Utahs in wenigen Augenblicken?«
«Ja.«
«Wenn sie sich im Canon befinden?«
«Ja.«
«Das kann weder durch Messer, Gewehre oder sonstige Waffen geschehen.«
«Nein. Und eben das, wodurch und wie es geschieht, vermagst du dir gar nicht zu denken.«
«Gar wohl! Nämlich durch eine Naturkraft. Durch die Luft, also Sturm? Nein. Durch Feuer? Auch nicht. Also durch das Wasser!«
«Deine Gedanken sind gut und klug; aber weiter kommst du nicht!«
«Wollen sehen! Wo hast du genug Wasser, um so viele Menschen zu töten? Im See. Werden diese Leute in den See gehen? Nein. Also muß der See zu den Leuten gehen; er muß seine Fluten plötzlich in den Canon ergießen. Wie ist das möglich? Es liegt doch ein hoher, starker Damm dazwischen! Nun, dieser Damm ist vor alter Zeit nicht gewesen; er ist gebaut worden, und dabei hat man ihm eine Einrichtung gegeben, durch welche er plötzlich geöffnet werden kann, so daß der trockene Canon sich augenblicklich in einen reißenden Strom verwandelt. Habe ich es erraten?«
Trotz der Ruhe, welche ein Indianer, und besonders ein Häuptling, in allen Lagen zu bewahren hat, sprang der» große Bär «auf und rief:»Herr, bist du allwissend?«
«Nein, aber ich denke nach.«
«Du hast es erraten; wirklich, du hast es erraten! Aber wie bin ich zu diesem Geheimnisse gekommen?«
«Durch Erbschaft.«
«Und wie wird der Damm geöffnet?«
«Wenn du mir erlaubst, nachzuforschen, so werde ich dir diese Frage sehr bald beantworten.«
«Nein, das darf ich dir nicht erlauben. Aber kannst du auch erraten, weshalb dieser Damm errichtet worden ist?«
«Ja.«
«Nun?«
«Aus zwei Gründen. Erstens zur Verteidigung. Die Eroberer der südlichen Gegenden kamen alle von Norden. Dieser große Canon war ein beliebter Weg der Eroberer. Man baute den Damm, um ihn zu sperren und das Wasser plötzlich loslassen zu können.«
«Und der zweite Grund?«
«Der Schatz.«
«Der Schatz?«fragte der Häuptling, indem er einen Schritt zurücktrat.
«Was weißt du von ihm?«
«Nichts; aber ich errate viel. Ich sehe den See, seine Ufer, seine Umgebung und denke nach. Bevor es den Damm gab, war kein See vorhanden, sondern ein tiefes Thal, durch welches die Bäche, die es heute hier noch gibt, in den Canon flossen, den sie sich gegraben hatten. Eine reiche Nation wohnte hier; sie kämpfte lange Zeit gegen die andringenden Eroberer; sie erkannte, daß sie nachgeben, fliehen müsse, vielleicht einstweilen nur. Sie vergrub ihre Kostbarkeiten, ihre heiligen Gefäße, hier in dem Thale und errichtete den Damm, damit ein großer See entstehe, dessen Flut der unbesiegbare, stumme Wächter dieses Schatzes sei.«
«Schweig, schweig, sonst enthüllst du alles, alles!«rief der» große Bär «erschrocken.»Sprechen wir nicht von dem Schatze, sondern nur von dem Damme. Ja, ich kann ihn öffnen; ich kann tausend und noch mehr Utahs ersäufen, wenn sie sich im Canon befinden. Soll ich es thun, wenn sie kommen?«
«Um Gotteswillen, nein! Es gibt noch andre Mittel, sie zu bezwingen.«
«Welche? Die Waffen?«
«Ja, und sodann die Geiseln, welche dort im Grase liegen. Es sind die berühmtesten Häuptlinge der Utahs. Diese werden, um ihre Anführer zu retten, auf manche Bedingung, die wir machen können, eingehen. Deshalb haben wir sie ergriffen und mitgebracht.«
«Dann müssen wir diese Gefangenen in Sicherheit bringen.«
«Hast du einen passenden Ort?«
«Ja; sie mögen erst essen und trinken; dann werden wir sie nach demselben schaffen.«
Die Gefangenen bekamen die Hände frei; sie erhielten Fleisch und Wasser und wurden dann wieder gefesselt. Nachher wurden sie mit Hilfe einiger Timbabatschen in den am Ufer liegenden Kanoes nach der Insel gebracht. Old Firehand, Shatterhand und Winnetou begaben sich auch hinüber. Sie waren wißbegierig, das Innere des Bauwerkes zu sehen.
Dieses bestand oberhalb nur aus einem Erdgeschoß, welches durch eine Mauer in zwei Abteilungen getrennt wurde. In der einen befand sich der Herd, und die andre bildete den Wohnraum. Dieser war außerordentlich dürftig ausgestattet. Eine Hängematte und ein primitives Lager, das war alles.»Und hier sollen die Gefangenen bleiben?«fragte Old Shatterhand.»Nein, denn hier hätten wir sie nicht sicher genug. Es gibt einen noch viel bessern Ort.«
Er schob das Lager auf die Seite. Dieses bestand aus einer Unterlage von Querhölzern mit darüber gebreiteten Schilfmatten und Decken. Unter dem Lager wurde eine viereckige Öffnung frei, durch welche ein eingekerbter Baumstamm als Leiter nach unten führte. Der Häuptling stieg hinab; Old Shatterhand folgte ihm, und die andern sollten nun die Gefangenen einzeln hinablassen.
Durch die Öffnung fiel so viel Licht in diesen kellerartigen Raum, daß Old Shatterhand sich leicht zu orientieren vermochte. Er war größer als die Wohnstube; die Vergrößerung lag nach der Gartenseite zu. Die entgegengesetzte Seite wurde durch eine Luftziegelmauer abgeschlossen, in welcher es weder Thür noch sonstige Öffnung gab. Als der Jäger an dieselbe klopfte, klang sie dünn und hohl. Es befand sich also hinter ihr ein zweiter Keller, welcher unter dem Herdraume lag. Und doch war in dem letzteren kein Zugang nach unten zu sehen gewesen.