»Arbeitet! Arbeitet!« rief der Pirat. Aber er schlug nicht mehr zu. Die Gewichte waren in Bewegung.
Es gibt wenig angenehme Abwechslung in der Windenkammer, einmal abgesehen vom Essen, Trinken und Träumen. An einer Wand – dort, wo man uns in den Arbeitspausen ruhen läßt –, befindet sich eine schmale Wasserrinne, die zweimal täglich aufgefüllt wird. Dort bekommen wir auch unsere Brotbrocken und Fleischfetzen und Früchte, normalerweise Abfall von den Piratenfesten. Wenn wir dann nachts trotz der Kälte endlich einschliefen, kamen die Träume. Sie betrafen in der Regel die eine oder andere zarte, warme Sklavin, die uns Gesellschaft leistete – aber eben nur im Traum. Beim Erwachen lagen wir allein im kalten Stroh oder auf den Steinen und spürten das feuchte, kalte schwere Eisen unserer Ketten. In meinen Träumen erschien vor allem ein Mädchen, die ehemalige Miß Henderson.
»Nicht nachlassen, ihr Sleen!« brüllte der Pirat und ließ die Peitsche knallen. »Arbeitet, arbeitet!«
In den letzten Tagen hatten wir das Wassertor oft geöffnet und geschlossen. Ich vermutete, daß diese Arbeit im wesentlichen auf das Kommen und Gehen von Kundschafterschiffen und Versorgungs- und Ausrüstungsbooten zurückging. Bis dann gestern das Tor etwas vier Ahn lang offen gestanden hatte. Ich ging davon aus, daß die Flotte des Policrates aufgebrochen war. Im Festsaal hatte ich, kurz bevor ich hinausgeschafft wurde, seine Bemerkung zu Kliomenes gehört, er wolle die Flotte nach Osten führen. Vermutlich hatte er das jetzt getan. Bestimmt wollte er die Städte des Ostens davon abhalten, ein Bündnis zu bilden und Schiffe zur Kette westlich von Port Cos zu entsenden, mit dem Ziel, Ragnar Voskjard aufzuhalten.
»Weiter!« brüllte der Pirat.
Während ich mühselig um die Winde trottete und mich kraftvoll gegen den Windenstempel stemmte, sah ich seitlich an der Wand zwei weitere Gefangenengruppen lagern; sie waren hinter der Wasserrinne kaum auszumachen. Es waren die Reservemannschaften. Niemand war hier unentbehrlich. Diese Erkenntnis spielte zweifellos eine große Rolle bei der Durchsetzung der Ordnung in diesem Raum. Wir wußten, daß jeder von uns auf eine Laune des Wächters von der Kette genommen werden konnte.
»Halt!« rief der Pirat. Das Tor war offen, und wir hielten inne. Er brachte den Bremskeil an, der verhinderte, daß das Tor zurückglitt. Schräg über uns pendelten die Gegengewichte an ihren Ketten. Wir kehrten unsere Position an den Stangen um, indem wir uns darunter hindurchduckten und die Ösen, an denen die Ketten befestigt waren, mit herumdrehten. Nun standen wir bereit, das Tor wieder hinabzulassen. Ich folgte dem Beispiel etlicher Leidensgenossen und legte den Kopf auf die Windenstange. Es ist anstrengend, das Tor zu heben. Draußen erreichten oder verließen vermutlich ein oder mehrere Schiffe, Flußgaleeren, das seeähnliche Innenbecken der Festung des Policrates. Das Signal zum Bewegen des Tors wird von einem Wächter des westlichen Torturms gegeben, eines der beiden Bauwerke, die das Wassertor flankieren. Es ist ein akustisches Zeichen. Dementsprechend wird seine Echtheit selten angezweifelt. Eine Trompete oder ein Stangensignal kann jeder bedienen. Die Winde befand sich im Westturm.
Es tat gut, sich einmal ausruhen zu können.
Gestern hatte das Tor vier Ahn lang offengestanden, und ich schloß daraus, daß die Flotte ausgelaufen war. Und daß Policrates seine Schiffe begleitet hatte. Die anstehende Aufgabe war zu wichtig, als daß er sie Untergebenen anvertrauen konnte. Vermutlich führte Kliomenes dafür nun die Aufsicht über die Festung. Wenigstens hoffte ich das.
»Gleich wird das Tor wieder geschlossen«, sagte der Pirat. »Haltet euch bereit.« Das Tor zu schließen geht schneller, doch wegen der Gewichte und dem Druck der Winde, die auf jeden Fall festgehalten werden muß, ist ebenfalls eine erhebliche Anstrengung erforderlich. Will man das Tor übrigens extrem schnell herabfallen lassen, wie es bei der Zerschmetterung meiner Galeere geschah, braucht man nur eines der Gegengewichte zu lösen. Die Stempel, mit denen die Winde normalerweise gedreht wird, müßten dazu natürlich gelöst werden. Geschähe dies nicht, würden die Stangen mit der rotierenden Winde auf das Unangenehmste herumrasen. Dies wäre natürlich äußerst gefährlich für jeden, der sich im Drehbereich der Stangen befände. Wie schon angemerkt, gibt es zwei Gegengewichte. Es genügt bereits, eines zu lösen, um das Tor herunterrasseln zu lassen. Würde man beide entfernen, könnte das Tor selbst Schaden nehmen.
»Fertig!« rief der Pirat.
Ich hob den Kopf. Ein goldener Lichtstreifen drang herab und fiel weich in den großen Raum. Unzählige goldene Staubkörner wirbelten darin. Ein schöner Anblick. Ich registrierte außerdem, daß das Fenster dort oben zu schmal war, um einen Mann hindurchzulassen.
»Ich habe Policrates persönlich zum Narren gehalten«, sagte ich zu dem Mann neben mir. »Ich brachte ihm den Topas. Er merkte nicht, daß ich der Falsche war, ebensowenig wie der Dummkopf Kliomenes.«
Der andere starrte mich ausdruckslos an.
»Lügner!« kreischte der Aufsichtführende Pirat. »Ich habe dich schon mehrmals wegen deiner Lügen verwarnt!«
Immer wieder hämmerte die Peitsche auf mich nieder. »Wenn du damit nicht aufhörst«, rief der Pirat, »trage ich die Sache Kliomenes vor!«
»Verzeih, Kapitän«, sagte ich und tat eingeschüchtert. Seine Bemerkung hatte mir aber verraten, daß ich recht hatte mit meiner Vermutung, Policrates sei unterwegs. Bestimmt hätte er mir mit einer Meldung bei Policrates gedroht, wenn dieser in der Festung gewesen wäre, zumal ich von Policrates gesprochen, hatte. Offensichtlich führte Kliomenes im Moment das Kommando über die Anlage. Und das war gut für meinen Plan.
»Tor schließen!« hörten wir einen Mann rufen. »Tor schließen!« Hoch über uns erschien plötzlich ein Pirat auf einem kleinen Balkon, der durch einen Wachraum betreten werden konnte. »Was ist da unten los?« brüllte er.
»Nichts!« rief der Pirat, der mic h geschlagen hatte.
»Hast du das Signal nicht gehört?« rief der Mann auf dem Balkon.
Der Windenaufseher warf mir einen zornigen Blick zu. Er lockerte den Bremskeil. Augenblicklich spürten wir den Druck an den Stempeln.
»Paß auf, du Dummkopf!« rief der Mann vom Balkon. »Das Tor schließen!«
»Das Tor schließen!« brüllte unser Aufseher zornig. »Beeilt euch, ihr Idioten!«
Wir spürten den Zug der Stangen an unseren Armen und ließen das Tor langsam herab, das die Gegengewichte in die Höhe zog.
Endlich war das Gitter unten.
Ich begegnete dem Blick des Piraten. Wutschäumend starrte er mich an. Ich senkte den Blick und tat verängstigt. In Wirklichkeit war ich nicht unzufrieden mit den Ereignissen des Tages.
31
»Laßt sie auspeitschen, beide!« befahl Kliomenes.
Er saß lässig zurückgelehnt im Thronsessel des Policrates und hielt Hof.
Mira und Tala, zwei blonde Schwestern aus Cos, die als Sklavinnen vor ihm knieten, wurden fortgeführt. Ihr Herr hatte Beschwerde gegen sie geführt, weil sie ihn nicht zufriedengestellt hatten.
»Führt sie fort!« rief Kliomenes.
»Weshalb bin ich hier, Kapitän?« fragte ich den Piraten neben mir, der mich in den Saal geführt hatte. Er hatte normalerweise die Aufsicht über die Arbeiter an der Winde.
»Kliomenes hält Hof«, sagte er grinsend.
»Aber ich habe nichts getan«, wandte ich ein und tat, als hätte ich eine Todesangst.
»Darüber soll Kliomenes urteilen«, bemerkte er.
»Bitte nicht, Kapitän!«
»Schweig!« befahl er grinsend.
»Ja, Kapitän.« Man hatte mich zwar von der Windenstange losgebunden, doch trug ich noch meine Ketten an Händen und Füßen.
»Was jetzt?« fragte Kliomenes.
»Die Verteilung von Beute«, sagte der Pirat.
Er schob fünf flache Schalen voller Münzen über die Fliesen und deponierte daneben ein Gewirr von Schmuck und eine Schale mit Perlen.