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All die nicht wahrnehmbaren Schmerzen ihres ruinierten Körpers wären Laura im Vergleich zu den Qualen, die sie beim Anblick der leblosen Gestalt ihres kleinen Jungen empfand, wie kleine Nadelstiche vorgekommen. Bei keiner der Tragödien ihres Lebens hatte sie je solchen Schmerz empfunden. Es war, als kämen alle Verluste, die sie je erlitten hatte - der ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte, ihres liebevollen Vaters, Nina Dockweilers, der sanften Ruthie und Dannys -, nochmals geballt in dieser neuerlichen Brutalität, die das Schicksal ihr auferlegte, zurück, so daß Laura nicht nur den unbeschreibba-ren Schmerz über den Tod von Chris empfand, sondern erneut auch die Qualen aller vorangegangenen Tode erlebte. Sie lag gelähmt im Sand: körperlich gefühllos, aber geistig Höllenqualen erleidend - nicht mehr imstande, tapfer zu sein, zu hoffen, zu sorgen. Ihr kleiner Junge war tot. Sie hatte es nicht geschafft, ihn zu retten, und mit ihm war alle Freude gestorben. Sie fühlte sich in einem kalten, feindseligen Universum schrecklich allein und erhoffte sich jetzt nur noch den Tod, unendliche Leere oder zumindest das Ende aller Sehnsucht, aller Trauer.

Sie sah den Bewaffneten auf sich zukommen.

»Erschießen Sie mich, bitte, erschießen Sie mich, machen Sie Schluß mit mir ...«, sagte Laura, aber ihre Stimme war so schwach, daß er sie wahrscheinlich nicht hörte.

Was war der Sinn ihres Lebens gewesen? Wozu hatte sie alle Tragödien erduldet? Weshalb hatte sie gelitten und weitergelebt, wenn alles so enden mußte? Welches grausame Wesen lenkte das Universum, war imstande, sie zu zwingen, sich durch ein schwieriges Leben zu kämpfen, das sich zuletzt doch als sinn- und zwecklos erwies?

Christopher Robin war tot.

Laura spürte, daß ihr heiße Tränen übers Gesicht liefen, aber das war alles, was sie körperlich fühlen konnte - das und die Härte des Schiefergesteins unter ihrer rechten Gesichtshälfte.

Der Bewaffnete war mit wenigen raschen Schritten heran, stand über ihr und trat sie in die Rippen. Sie wußte, daß er sie getreten hatte, denn sie blickte an ihrem eigenen unbeweglichen Körper hinunter und sah, wie seine Schuhspitze ihre Rippen traf. Aber sie spürte nicht das geringste.

»Erschießen Sie mich«, murmelte sie.

Laura hatte plötzlich schreckliche Angst, das Schicksal könnte versuchen, die ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinie allzu genau durchzusetzen, so daß sie vielleicht am Leben bleiben, aber an den Rollstuhl gefesselt sein würde, vor dem Stefan sie durch seine Einmischung vor ihrer Geburt gerettet hatte. Chris war das Kind, das nie im Plan des Schicksals vorgesehen gewesen war, und er war jetzt ausradiert worden. Aber sie würde vielleicht nicht ausradiert werden, denn ihr Schicksal war doch gewesen, als Schwerbehinderte zu leben.

Jetzt hatte sie eine Vision ihrer Zukunft: lebend, am ganzen Körper gelähmt, an den Rollstuhl gefesselt, gefangen in einem tragischen Leben, einem Dahinvegetieren mit bitteren Erinnerungen, nie endender Trauer und unerträglicher Sehnsucht nach ihrem Sohn, ihrem Mann, ihrem Vater und allen anderen, die sie verloren hatte ...

»O Gott, bitte, bitte, erschießen Sie mich.«

»Na, dann bin ich wohl ein Gottesbote«, sagte der über ihr stehende Killer grinsend. Er lachte häßlich. »Jedenfalls sorge ich dafür, daß Ihr Gebet in Erfüllung geht.«

Blitze zuckten, dann rollte Donner über die Wüste hinweg.

Dank der genauen Computerberechnungen kehrte Stefan exakt fünf Minuten nach seiner Abreise ins Jahr 1944 an genau die Stelle in der Wüste zurück, von der aus er seine Reise angetreten hatte. Im allzu hellen Wüstenlicht sah er als erstes Lauras blutende Gestalt und den über sie gebeugten SS-Schergen. Danach erkannte er Chris, der hinter den beiden lag.

Der Bewaffnete reagierte auf Blitz und Donner: Er begann, sich auf der Suche nach Stefan umzudrehen.

Stefan drückte dreimal den Knopf seines Rückkehrgürtels. Der Luftdruck erhöhte sich augenblicklich; die reine Wüstenluft roch plötzlich nach Ozon und verschmortem Isoliermaterial.

Der SS-Scherge sah ihn, riß seine Maschinenpistole hoch und eröffn ete das Feuer. Die Schüsse lagen zunächst weit neben dem Ziel, aber dann schwenkte der Bewaffnete die Mündung herum, bis sie genau auf Stefan gerichtet war.

Bevor die Kugeln trafen, verließ Stefan mit einem Plop! das Jahr 1989 und kehrte am Abend des 16. März 1944 in das Berliner Institut zurück.

»Scheiße!« sagte Klietmann, als Krieger unverletzt im Zeitstrom verschwand.

Bracher kam von dem Toyota herübergerannt und rief immer wieder: »Das ist er gewesen! Das ist er gewesen!«

»Ich weiß, daß er’s gewesen ist«, bestätigte Klietmann, als Bracher ihn erreichte. »Wer sollte es sonst gewesen sein - der wiederauferstandene Christus?«

»Was hat er vor?« fragte Bracher. »Was tut er in Berlin, wo hat er gesteckt, was geht hier vor?«

»Keine Ahnung«, antwortete Klietmann gereizt. Er starrte die Schwerverwundete an und sprach mit ihr: »Ich weiß bloß, daß er Sie und Ihren toten Jungen gesehen und nicht mal versucht hat, sich dafür an mir zu rächen. Statt dessen ist er abgehauen, um seine eigene Haut zu retten. Na, was halten Sie jetzt von Ihrem Helden?«

Sie bat nur weiter um ihren Tod.

Klietmann machte einige Schritte rückwärts. »Aus dem Weg, Bracher!« befahl er dem Rottenführer.

Bracher trat zur Seite, und Klietmann jagte einen Feuerstoß aus seiner MP, der die Frau durchsiebte und auf der Stelle tötete.

»Wir hätten sie verhören sollen«, wandte Bracher ein, »Sie hätte uns Auskunft über Krieger geben können, was er hier getan hat, wo er .«

»Sie war gelähmt«, unterbrach Klietmann ihn ungeduldig. »Sie spürte nichts. Ich hab’ sie in die Rippen getreten und ihr dabei bestimmt ein paar gebrochen, aber sie hat keinen Laut von sich gegeben. Wie wollen Sie aus einer Frau, die keine Schmerzen spürt, durch Gewalt Informationen rausholen?«

16. März 1944 im Institut:

Stefan, dessen Herz wie ein Schmiedehammer schlug, sprang aus dem Tor und rannte ans Programmierpult. Er zog die Liste mit den computerberechneten Zahlen aus der Tasche und breitete sie auf dem kleinen Schreibtisch in einer Nische zwischen den Geräten aus.

Er sank auf den Schreibtischstuhl, griff nach einem Bleistift und holte einen Schreibblock aus einer der Schubladen. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Bleistift zweimal fallen ließ. Die Zahlen, die ihn fünf Minuten nach seiner Abreise aus der Wüste dorthin zurückgebracht hatten, hatte Stefan bereits. Auf der Grundlage dieser Zahlen konnte er eine neue Kombination errechnen, die ihn vier Minuten und 55 Sekunden früher zurückbringen würde - nur fünf Sekunden nach seiner Trennung von Laura und Chris. Wenn er nur fünf Sekunden fort war, konnten die SS-Schergen sie und den Jungen bei seiner Rückkehr noch nicht ermordet haben. Stefan würde mit seiner Feuerkraft in den Kampf eingreifen und den Ausgang vielleicht zu ihren Gunsten beeinflussen können.

Die nötigen mathematischen Kenntnisse hatte Stefan sich angeeignet, nachdem er im Herbst 1943 ins Institut abkommandiert worden war. Er konnte diese Berechnungen selbständig durchführen. Die Aufgabe war lösbar, denn er brauchte nicht ganz von vorn anzufangen; er brauchte die Computerergebnisse lediglich so abzuändern, daß ein um wenige Minuten vorverlegter Zeitpunkt herauskam.

Aber er starrte das Papier an und konnte nicht denken, weil Laura tot war, weil Chris tot war.

Ohne sie hatte er nichts.

Du kannst sie zurückbekommen, sagte er sich. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Du kannst die Tragödie verhindern, bevor sie eintritt.

Stefan machte sich verbissen an die Arbeit, für die er fast eine Stunde brauchte. Obwohl er wußte, wie unwahrscheinlich es war, daß jemand um diese Zeit ins Institut kommen und ihn hier überraschen würde, bildete er sich wiederholt ein, auf dem Korridor Schritte zu hören: das scharfe Klicken von SS-Stiefeln. Zweimal starrte er zu der Zeitmaschine hinüber, weil er irgendwie davon überzeugt war, die fünf zu neuem Leben erwachten Toten wären auf der Suche nach ihm aus dem Jahre 6 000 000 000 zurückgekommen.