Chris war mit einem Satz in der Rinne. Die Schwerkraft zog ihn nach unten, aber an einigen Stellen, wo die Reibung zu groß war, mußte er mit Händen und Füßen nachhelfen. Unter anderen Umständen hätte dieses gewagte Unternehmen eine Mutter in Angst und Schrecken versetzen müssen, aber diesmal feuerte Laura ihn sogar an.
Sie jagte mindestens 100 Schuß in den Toyota, weil sie hoffte, den Benzintank durchlöchern, den auslaufenden Treibstoff durch einen von einer Kugel erzeugten Funkten entzünden und so die hinter dem Wagen kauernden Schweinehunde rösten zu können. Aber sie schoß das Magazin ohne den gewünschten Erfolg leer.
Als Laura zu schießen aufhörte, erwiderte einer der Kerle das Feuer. Aber sie blieb nicht lange genug sichtbar, um ein gutes Ziel zu bieten. Sie hielt die zweite Uzi mit beiden Händen vor ihrem Körper fest und verschwand mit einem Satz in der schon von Chris benutzten Rinne. Sekunden später war sie auf dem Boden des Arroyos angelangt.
Der pulverfeine Sand im Bett des ausgetrockneten Flusses war mit über die Felskante gewehten Tumbleweeds bedeckt. Dazwischen lagen verkrümmte Treibholzstücke - von der Zeit angegraute Überreste einer alten Hütte - und einige Felsbrok-ken. Nichts davon war als Versteck geeignet oder konnte ihnen als Deckung vor den Schüssen dienen, die bald von oben kommen würden.
»Mom?« fragte Chris - und meinte damit: Was nun?
Der Arroyo hatte bestimmt Dutzende von Nebenläufen, die in die Wüste hinausgriffen, und viele der Nebenarme würden wiederum eigene Nebenläufe haben. Dieses Netzwerk aus Trockentälern glich einem Labyrinth. Sie konnten sich nicht unbegrenzt lange darin verstecken, aber indem sie ein paar Nebenarme zwischen sich und ihre Verfolger brachten, gewannen sie vielleicht Zeit für die Planung eines Hinterhalts.
»Lauf los, Baby!« forderte sie Chris auf. »Du folgst der Hauptschlucht, verschwindest im ersten Seitental rechts und wartest dort auf mich.«
»Was hast du vor?«
»Ich warte, bis sie dort oben über den Rand sehen«, antwortete Laura, »und versuche dann, sie abzuschießen. Lauf jetzt, lauf!«
Er rannte los.
Laura ließ den Vexxon-Zylinder gut sichtbar liegen und kehrte zu der Arroyoflanke zurück, die sie hinuntergerutscht waren. Sie ging jedoch zu einer tiefer in den Fels eingegrabenen anderen Rinne weiter, die weniger steil und im unteren Drittel durch einen Mesquitebusch halb blockiert war. Auf dem Boden dieses tiefen Einschnitts konnte sie sicher sein, daß der Busch sie vor den Blicken ihrer Verfolger am Rand des Arrayos schützte.
Östlich davon verschwand Chris hinter einem Felsvorsprung in einem Nebenarm des Hauptkanals.
Einen Augenblick später hörte sie Stimmen. Laura wartete so lange, bis die Kerle davon überzeugt sein konnten, Chris und sie seien weitergeflüchtet. Dann trat sie aus der Erosionsrinne in der Arroyowand, drehte sich um und bestrich die Felskante mit MP-Feuer.
Über ihr standen vier Männer, die in die Tiefe starrten. Laura erschoß die beiden ersten, aber der dritte und vierte warfen sich zurück, bevor ihr Feuer sie erreichte. Einer der Toten blieb so dicht am Abgrund liegen, daß ein Arm und ein Bein über die Felskante ragten. Der andere stürzte sich überschlagend in die Schlucht und verlor dabei seine Sonnenbrille.
16. März 1944 im Institut:
Als die Glaskaraffe mit der Warnung nicht vom Zeitstrom zurückgeschleudert wurde, hatte Stefan Grund zur Annahme, sie werde Laura wenige Sekunden nach seiner ersten Abreise ins Jahr 1944 erreichen, bevor sie erschossen wurde.
Jetzt setzte er sich wieder an den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit, um eine Zahlenkombination zu berechnen, die ihn wenige Minuten nach seiner vorigen Ankunft in die Wüste zurückbringen würde. Diese Reise war möglich, weil er nach seinem hastigen Verschwinden eintreffen würde, so daß keine Gefahr bestand, sich selbst zu begegnen. Folglich war kein Paradox zu befürchten.
Auch diesmal waren die Berechnungen nicht weiter schwierig, denn er brauchte nur von den Zahlen auszugehen, die der IBM-PC ihm geliefert hatte. Obwohl Stefan wußte, daß es keinen Zusammenhang zwischen hier verbrachter Zeit und seiner scheinbaren Abwesenheit aus der Wüste des Jahres 1989 gab, hatte er es eilig, wieder zu Laura zu kommen. Auch wenn sie seinen Ratschlag befolgt hatte, auch wenn die Zukunft geändert worden war und Laura noch lebte, würde sie sich gegen die SS-Schergen wehren müssen und dabei Hilfe brauchen.
Nach 40 Minuten hatte er die Zahlen errechnet und programmierte das Tor neu.
Auch diesmal klappte Stefan die Abdeckung des Registriergeräts hoch und riß den verräterischen Papierstreifen ab.
Er nahm die Uzi und seine Pistole mit, biß die Zähne zusammen, weil der dumpfe Schmerz in seiner erst halbverheilten Schulterwunde schlimmer wurde, und betrat wieder das Tor.
Etwa 20 Meter von der Stelle entfernt, wo sie den Boden des Arroyos erreicht hatten, stieß Laura, die außer ihrer Uzi den Vexxon-Zylinder schleppte, in einem engeren Nebenarm des Haupttals auf Chris. Sie kauerte sich hinter einen Vorsprung am Ausgang der durch zwei Erdwälle gebildeten Schlucht und beobachtete den Hauptkanal, aus dem sie gekommen war.
In der Wüste über ihr stieß einer der überlebenden Killer den über die Felskante baumelnden Leichnam in die Tiefe - offenbar um zu testen, ob sie noch unter ihnen war und sich dazu provozieren ließ, das Feuer zu eröffnen. Als kein Schuß fiel, wurden die beiden Überlebenden kühner. Einer ging mit seiner MP am Rand der Schlucht in Stellung und gab dem anderen Feuerschutz, als dieser durch die Rinne abrutschte. Danach gab der erste Bewaffnete seinem herabrutschenden Kameraden Feuerschutz.
Als die beiden unten nebeneinander standen, trat Laura unerschrocken aus ihrem Versteck und gab einen zwei Sekunden langen Feuerstoß ab. Ihre Agressivität überraschte ihre Verfolger so sehr, daß sie das Feuer nicht erwiderten, sondern in die tiefen Erosionsrinnen in den Arroyoflanken flüchteten, um darin Schutz zu suchen - wie zuvor Laura, als sie auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sie von der Felskante zu schießen. Nur einer der beiden schaffte es, in Deckung zu gelangen. Den anderen durchsiebte sie.
Laura trat hinter den Vorsprung zurück, hob den Zylinder mit Nervengas auf und sagte zu Chris: »Komm, wir haben’s eilig!«
Während sie dem Nebenarm folgten und nach einer tiefer ins Labyrinth führenden Abzweigung Ausschau hielten, spalteten Blitze und Donner das Himmelsblau über ihnen.
»Stefan!« rief Chris aus.
Sieben Minuten nach seiner ursprünglichen Abreise zu den Begegnungen mit Churchill und Hitler im Jahre 1944 und nur zwei Minuten nach seiner ersten Rückkehr, bei der er Laura und Chris von SS-Schergen ermordet gesehen hatte, kehrte Stefan in die Wüste zurück. Diesmal waren keine Leichen zu sehen - nur der Buick . und der von Kugeln durchlöcherte Toyota, jetzt an anderer Stelle.
Stefan, der jetzt zu hoffen wagte, daß sein Plan Erfolg gehabt haben könnte, rannte an den Rand des Arroyos, lief die Kante entlang und suchte jemand, irgend jemand, Freund oder Feind. Wenig später entdeckte er zehn Meter unter sich in dem ausgetrockneten Flußbett die drei Toten.
Irgendwo mußte noch ein vierter Mann sein. Kein SS-Kommando würde aus nur drei Männern bestehen. Irgendwo in diesem Gewirr aus Arroyos, die sich wie erstarrte Blitze über die Wüste ausbreiteten, befand Laura sich noch auf der Flucht vor dem vierten Mann.
In der Arroyoflanke entdeckte Stefan eine nach unten führende Rinne, die schon mehrmals benützt worden zu sein schien. Er ließ seinen Bücherrucksack oben liegen und rutschte hinunter. Dabei schrammte er mit dem Rücken über das Geröll und spürte siedendheiß den Schmerz in der erst teilweise verheilten Austrittswunde. Als er am Fuß der Rinne auf die Beine kam, fühlte er sich schwindlig und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Irgendwo in dem Labyrinth östlich von ihm hämmerten automatische Waffen.