Außerdem bedeutete der Tod nicht das Ende eines Menschen. In Wirklichkeit war der Tod ein Anfang, denn mit ihm begann ein neues, besseres Leben. Sie wußte, daß das so war, denn ihr Vater hatte es ihr erzählt, und ihr Vater hatte nie gelogen. Ihr Vater war grundehrlich und freundlich und liebevoll gewesen.
Als der Geistliche ans Rednerpult links neben dem Sarg trat, beugte Cora Lance sich zu Laura hinüber und flüsterte: »Alles in Ordnung, Schätzchen?«
»Ja, natürlich«, antwortete sie, ohne Cora jedoch anzusehen. Da sie nicht wagte, die Blicke anderer zu erwidern, studierte sie ihre unbelebte Umgebung mit großen Interesse.
Dies war die erste Einsegnungshalle, in der Laura je gewesen war, und sie gefiel ihr nicht. Der burgunderrote Teppich war lächerlich hochflorig. Auch die Vorhänge und Polstersessel waren burgunderrot mit schmalen Goldrändern, und die Lampen hatten burgunderrote Schirme, als wäre der Raum von einem Innenarchitekten mit einem krankhaften Hang für Burgunderrot ausgestattet worden.
»Hang« war ein neues Wort für Laura. Sie gebrauchte es viel zu oft, was ihr bei neuen Wörtern unweigerlich passierte, aber in diesem Fall paßte es wirklich. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie manchmal mit ihrer Leidenschaft für neue Wörter aufgezogen hatte. Er hatte Spaß daran gehabt, sie zum Lachen zu bringen - zum Beispiel mit seinen Geschichten über Sir Keith Kröterich, das britische Amphibium, das er erfunden hatte, als Laura acht gewesen war, und dessen komische Biographie er fast tagtäglich weiter ausgeschmückt hatte. In mancher Beziehung war ihr Vater kindlicher gewesen als sie, und sie hatte ihn dafür geliebt.
Lauras Unterlippe zitterte. Sie biß fest darauf. Tränen hätten bedeutet, daß sie bezweifelte, was ihr Vater ihr immer wieder über das nächste, das bessere Leben erzählt hatte. Durch ihr Weinen hätte sie ihn endgültig für tot erklärt - für immer und ewig tot, finito.
Sie sehnte sich danach, sich in ihrem Zimmer über dem Laden im Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen zu können. Der Gedanke erschien ihr so reizvoll, daß sie fürchtete, er könnte sich für sie zu einem Hang entwickeln.
Von der Einsegnungshalle begaben sie sich zum Friedhof.
Dort gab es keine Grabsteine. Die Gräber waren durch Bronzeplaketten auf eben in den Boden eingelassenen Marmorplatten gekennzeichnet. Die sanft gewellten grünen Rasenflächen im Schatten riesiger Lorbeerbäume und kleinerer Magnolien hätten ein Park sein können, in dem man rennen und toben und spielen und lachen konnte - wenn das offene Grab nicht gewesen wäre, über dem Bob Shanes Sarg hing.
Letzte Nacht war sie zweimal durch fernen Donner aufgewacht, und im Halbschlaf hatte sie Blitze zu sehen geglaubt. Aber falls es nachts ein für diese Jahreszeit unübliches Gewitter gegeben haben sollte, war davon nichts mehr zu sehen. Der Himmel war wolkenlos blau.
Laura stand zwischen Cora und Anita, die sie an den Händen hielten und ihr Trost zuflüsterten, aber nichts, was sie sagten oder taten, konnte sie wirklich trösten. Ihre innere Kälte nahm mit jedem Wort des Abschiedsgebets des Geistlichen zu, bis sie das Gefühl hatte, nackt einem Polarwinter ausgesetzt zu sein, statt an einem heißen, windstillen Julimorgen im Schatten eines Baums zu stehen.
Der Totengräber schaltete die Elektrowinde ein, an deren Drahtseil der Sarg hing. Bob Shanes Leichnam wurde in die Erde gesenkt.
Laura, die das langsame Versinken des Sarges nicht mit ansehen konnte und der plötzlich das Atmen schwerfiel, wandte sich ab, entzog sich den liebevollen Händen ihrer beiden Wahlgroßmütter und entfernte sich einige Schritte weit. Sie war kalt wie Marmor; sie konnte den Schatten nicht länger ertragen. Sie blieb stehen, sobald sie in die Sonne trat, die sich auf ihrer Haut warm anfühlte, ohne jedoch gegen ihre innerlichen Schauder zu helfen.
Sie starrte etwa eine Minute lang den sanft abfallenden Hügel hinunter, bevor ihr der Mann auffiel, der am anderen Ende des Friedhofs vor einem Wäldchen aus großen Lorbeerbäumen stand. Er trug ein weißes Hemd und eine hellbeige Sommerhose, die vor dem schattigen Hintergrund schwach zu leuchten schienen, als wäre er ein Gespenst, das seine gewohnte nächtliche Umgebung mit dem Tageslicht vertauscht hatte. Er beobachtete sie und die übrige Trauergemeinde um Bob Shanes Grab, das fast auf dem Rücken des Hügels lag. Aus dieser Entfernung konnte Laura sein Gesicht nicht erkennen, aber sie sah, daß er groß und stark und blond war - und beunruhigend vertraut.
Der Beobachter faszinierte sie, ohne daß sie einen Grund dafür hätte nennen können. Sie ging wie unter einem Zauberbaum zwischen den Grabstätten und über Gräber hinweg hügelab-wärts. Je näher sie dem Blonden kam, desto vertrauter erschien er ihr. Anfangs reagierte er nicht auf ihre Annäherung, aber sie wußte, daß er sie aufmerksam beobachtete, und glaubte seinen Blick auf sich zu spüren.
Cora und Anita riefen ihren Namen, aber Laura ignorierte die beiden. Von unerklärlicher Erregung erfaßt, ging sie rascher, bis sie nur noch etwa dreißig Meter von dem Unbekannten entfernt war.
Der Mann zog sich ins Zwielicht unter den Bäumen zurück.
Aus Angst, er werde fort sein, bevor sie ihn richtig gesehen hatte - und ohne eigentlich zu wissen, weshalb das so wichtig sein sollte -, begann Laura zu rennen. Aber die Sohlen ihrer neuen schwarzen Schuhe waren noch glatt, so daß sie mehrmals beinahe hingefallen wäre. Wo der Mann gestanden hatte, war das Gras niedergetreten: Er war also kein Geist gewesen.
Laura nahm eine schemenhafte Bewegung zwischen den Bäumen wahr - das geisterhafte Weiß seines Hemdes. Sie hastete hinter ihm her. Im Schatten unter den Lorbeerbäumen wuchs nur blasses, spärliches Gras, aber dafür gab es überall aus dem Boden ragende Wurzeln und trügerische Schatten. Sie stolperte, hielt sich an einem Baum fest, um nicht zu fallen, gewann ihr Gleichgewicht zurück, sah auf - und mußte feststellen, daß der Mann verschwunden war.
stellen, daß der Mann verschwunden war.
Das Wäldchen bestand aus etwa hundert Bäumen, deren Zweige ein dichtes Blätterdach bildeten, durch das nur einzelne goldene Sonnenstrahlen drangen. Laura hastete durchs Halbdunkel weiter. Sie glaubte mehrmals, den Mann zu sehen, aber die vermeintliche Gestalt erwies sich stets als Phantombewegung, als ein Spiel aus Licht und Schatten oder ein Produkt ihrer Phantasie. Als leichter Wind aufkam, glaubte sie seine verstohlenen Schritte im alles überdeckenden Rauschen der Blätter zu hören, aber als sie diesem deutlichen Geräusch nachging, war es plötzlich nicht mehr zu hören.
Nach einigen Minuten hatte Laura das Wäldchen durchquert und erreichte eine Straße, die einen anderen Teil des weitläufigen Friedhofs erschloß. Am Straßenrand parkten Autos, deren Chrom im Sonnenschein glitzerte, und gut hundert Meter entfernt umstanden Trauernde ein weiteres Grab.
Laura blieb schwer atmend am Straßenrand stehen und fragte sich, wohin der Mann in dem weißen Hemd verschwunden sein mochte - und weshalb sie ihn unbedingt ganz aus der Nähe hatte sehen wollen.
Der pralle Sonnenschein, das Ausbleiben der kurzlebigen Brise und die wieder über dem Friedhof liegende völlige Stille bewirkten, daß Laura unbehaglich zumute wurde. Das Sonnenlicht schien durch sie hindurchzugehen, als wäre sie körperlos, sie fühlte sich seltsam leicht und zugleich etwas schwindlig -als schwebe sie im Traum eine Handbreit über dem Erdboden.
Gleich werde ich ohnmächtig, dachte sie.
Laura stützte sich mit einer Hand auf den vorderen Kotflügel eines geparkten Wagens und biß die Zähre zusammen, während sie sich bemühte, bei Bewußtsein zu bleiben.
Obwohl sie erst zwölf war, dachte und handelte sie nicht oft kindlich und fühlte sich auch nie als Kind - doch jetzt, in diesem Augenblick auf dem Friedhof, kam sie sich plötzlich sehr klein, schwach und hilflos vor.