Ein beiger Ford rollte im Schrittempo die Straße entlang und wurde noch langsamer, als er sich Laura näherte. Sein Fahrer war der Blonde mit dem weißen Hemd.
Sobald Laura ihn sah, wußte sie, weshalb er ihr vertraut vorgekommen war. Der Raubüberfall vor vier Jahren! Ihr Schutzengel ... Obwohl sie damals erst acht gewesen war, würde sie sein Gesicht nie vergessen.
Er brachte den Ford fast zum Stehen, rollte sehr langsam an ihr vorbei und betrachtete sie dabei prüfend. Sie waren keine drei Meter voneinander entfernt.
Durchs offene Autofenster konnte Laura jede Einzelheit seines einnehmenden Gesichts so deutlich erkennen wie an jenem schrecklichen Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Seine Augen waren so leuchtend blau und durchdringend, wie Laura sie in Erinnerung hatte. Als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr sie ein Schauder.
Der Mann betrachtete sie schweigend und ohne zu lächeln, als versuche er, sich Lauras Aussehen in allen Einzelheiten einzuprägen. Er starrte sie an, wie ein erschöpfter Wüstenwanderer ein großes Glas quellfrisches Wasser angestarrt haben würde. Sein Schweigen und sein beharrlicher Blick ängstigten Laura, aber sie vermittelten ihr zugleich ein unerklärliches Gefühl der Geborgenheit.
Das Auto rollte an ihr vorbei. »Halt, warten Sie!« rief Laura.
Sie stieß sich mit beiden Händen von dem Wagen ab, an dem sie gelehnt hatte, und rannte hinter dem beigen Ford her. Aber der Blonde gab Gas, fuhr rasch davon und ließ sie allein in der Sonne stehen, bis sie einen Augenblick später eine Männerstimme hinter sich hörte: »Laura?«
Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann nicht gleich. Erst als er nochmals halblaut ihren Namen rief, erblickte sie ihn nur zehn Meter von sich entfernt unter den ersten Bäumen des Wäldchens, aus dem sie gekommen war. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose und schien irgendwie nicht in diesen Sommertag zu passen.
Laura, die sich fragte, ob dieser Mann irgend etwas mit ihrem Schutzengel zu tun habe, trat neugierig und verwirrt auf ihn zu. Sie war bis auf wenige Schritte an den neuen Unbekannten herangekommen, als sie merkte, daß die Disharmonie zwischen ihm und dem hellen, warmen Sommertag nicht nur auf seine schwarze Kleidung zurückzuführen war. Winterliche Düsterkeit schien zu seinen Eigenschaften zu gehören: Er strahlte Kälte aus, als wäre er dafür geboren, in Polarregionen zu hausen.
Sie blieb eineinhalb Meter vor ihm stehen.
Er sagte weiter nichts, sondern starrte sie nur forschend an. Sein durchdringender Blick drückte vor allem Frage und Verwirrung aus.
Sie sah die Narbe auf seiner linken Backe.
»Weshalb du?« fragte der winterliche Mann, trat einen Schritt vor und wollte nach ihr greifen.
Laura stolperte rückwärts und konnte vor Angst nicht einmal schreien.
Aus der Mitte des Wäldchens rief Cora Lance: »Laura? Wo bist du, Laura?«
Der Unbekannte reagierte auf die Nähe von Coras Stimme, indem er sich abwandte und zwischen den Lorbeerbäumen verschwand. Seine schwarze Gestalt verschmolz so rasch mit den Schatten, als wäre er kein Mensch, sondern nur ein zu kurzem Leben erwachtes Stück Dunkelheit gewesen.
Fünf Tage nach der Beerdigung - am Samstag, dem 29. Juli -war Laura zum ersten Mal seit einer Woche wieder in ihrem Zimmer über dem Lebensmittelgeschäft. Sie packte und nahm Abschied von der Umgebung, die ihr Heim gewesen war, solange sie zurückdenken konnte.
Sie unterbrach ihre Arbeit, setzte sich auf die Kante ihres ungemachten Betts und versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie glücklich und geborgen sie noch vor wenigen Tagen in diesem Raum gewesen war. Über hundert Taschenbücher, vor allem Hunde- und Pferdegeschichten, standen in einem Eckregal. Vier Dutzend Hunde- und Katzenminiaturen - aus Glas, Messing, Zinn und Porzellan - drängten sich auf zwei Regalbrettern über dem oberen Bettende.
Laura hatte kein Haustier, denn in Wohnungen über Lebensmittelgeschäften durften keine Tiere gehalten werden. Aber sie hoffte, eines Tages einen Hund zu bekommen, vielleicht sogar ein Pferd. Noch wichtiger war, daß sie vielleicht Tierärztin werden würde, wenn sie groß war - eine Heilerin kranker und verletzter Tiere.
Ihr Vater hatte gesagt, sie könne alles werden: Tierärztin, Rechtsanwältin, Filmstar, einfach alles. »Wenn du Lust hast, kannst du Rentierhirtin oder eine Ballerina auf Stelzen werden. Du läßt dich von nichts abhalten.«
Laura mußte lächeln, als sie daran dachte, wie ihr Vater die Ballerina nachgemacht hatte. Aber dabei fiel ihr auch ein, daß er sie verlassen hatte, und sie spürte, wie sich eine schreckliche Leere in ihr öffnete.
Sie räumte den Kleiderschrank aus, legte ihre Sachen sorgsam zusammen und packte sie in zwei große Koffer. Sie hatte auch einen Überseekoffer, in den sie ihre Lieblingsbücher, ein paar Spiele und einen Teddybären legte. Cora und Tom Lance machten eine Inventarliste der übrigen Räume der kleinen Wohnung und des Lebensmittelgeschäfts im Erdgeschoß. Laura sollte zu ihnen ziehen, wobei ihr noch nicht recht klar war, ob dies eine Dauerlösung oder lediglich eine Übergangslösung sein würde.
Durch Gedanken an ihre ungewisse Zukunft nervös und unruhig gemacht, wandte Laura sich wieder dem Packen zu. Sie zog die Schublade des zweiten Nachttischs auf und erstarrte beim Anblick der winzigen Stiefel, des kleinen Regenschirms und des zehn Zentimeter langen Schals, die ihr Vater als Beweis dafür besorgt hatte, daß Sir Keith Kröterich tatsächlich in Untermiete bei ihnen wohnte.
Er hatte einen seiner Freunde, einen geschickten Schuhmacher, dazu überredet, diese winzigen Stiefel anzufertigen, die vorn besonders breit waren, damit Zehen mit Schwimmhäuten darin Platz hätten. Der Schirm stammte aus einem Laden, und den grünkarierten Wollschal hatte er selbst genäht und mühsam mit Fransen versehen. Als Laura an ihrem neunten Geburtstag von der Schule heimgekommen war, hatten Schirm und Stiefel in der Diele gestanden und der kleine Schal am Kleiderhaken darüber gehangen. »Pssst!« hatte ihr Vater theatralisch geflüstert. »Sir Keith ist eben von einer anstrengenden Reise zurückgekommen, die er im Auftrag der Königin von Ecuador gemacht hat - sie besitzt dort eine Diamantenfarm, weißt du -, und ist ganz erschöpft. Er schläft bestimmt tagelang. Aber er hat mich gebeten, dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen, und hat ein Geschenk mitgebracht, das im Hof steht.« Das Geschenk war ein neues Fahrrad gewesen.
Als Laura jetzt diese winzigen Gegenstände in der Nachttischschublade anstarrte, wurde ihr klar, daß nicht nur ihr Vater gestorben war. Mit ihm waren Sir Keith Kröterich und die vielen anderen von ihm erfundenen Gestalten und die kindischen, aber wundervollen Geschichten fort, mit denen er sie unterhalten hatte. Die breiten Stiefel, der winzige Regenschirm und der kleine Schal sahen so süß und mitleiderregend aus, daß man beinahe glauben konnte, Sir Keith habe tatsächlich existiert und sei jetzt in eine bessere Krötenwelt heimgekehrt. Ein leises, schmerzliches Stöhnen entrang sich Laura. Sie ließ sich aufs Bett fallen, vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen, damit niemand sie schluchzen hörte, und ließ sich erstmals seit dem Tod ihres Vaters von ihrem Schmerz überwältigen.
Sie wollte nicht ohne ihn leben - und mußte nicht nur leben, sondern auch gedeihen, weil jeder Tag ihres Lebens Zeugnis für ihn ablegen sollte. Obwohl Laura erst zwölf war, begriff sie bereits, daß ihr Vater in gewisser Weise durch sie weiter existieren würde, wenn sie anständig lebte und ein guter Mensch zu werden versuchte.
Aber es würde nicht leicht sein, der Zukunft optimistisch entgegenzutreten und glücklich zu werden. Sie wußte jetzt, daß das Leben erschreckend tragischen Wechselfällen unterworfen war: daß es heiter und warm und im nächsten Augenblick kalt und stürmisch sein konnte, so daß man nie wußte, wann ein Blitzstrahl einen geliebten Menschen treffen würde. Nichts hatte ewig Bestand. Das Leben war eine Kerze im Wind. Es war eine harte Lektion für ein Mädchen in ihrem Alter, und Laura kam sich alt, sehr alt, uralt vor.