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Als der heiße Tränenstrom versiegte, beeilte sie sich, ihre Fassung zurückzugewinnen, damit das Ehepaar Lance nicht merkte, daß sie geweint hatte. Wenn die Welt hart, grausam und unbarmherzig war, dann konnte es nicht klug sein, sich auch nur die geringste Schwäche anmerken zu lassen.

Laura wickelte die kleinen Stiefel, den Regenschirm und den Wollschal sorgfältig in Kosmetiktücher und verstaute sie in dem Überseekoffer.

Als beide Nachttische ausgeräumt waren, machte sie sich an ihren Schreibtisch und entdeckte auf der Schreibunterlage aus grünem Filz einen zusammengefalteten Briefbogen, auf dem in klarer, eleganter, wie gestochen wirkender Handschrift eine Mitteilung für sie stand.

Liebe Laura,

manche Ereignisse sind vorausbestimmt, und niemand kann sie verhindern. Nicht einmal Dein spezieller Beschützer. Tröste Dich mit der Gewißheit, daß Du von Deinem Vater von ganzem Herzen und auf eine Weise geliebt worden bist, wie nur wenige Glückliche jemals geliebt werden. Wenn Du jetzt auch glaubst, niemals wieder glücklich sein zu können, täuschst Du Dich. Im Laufe der Zeit wirst Du wieder glücklich werden. Das ist kein leeres Versprechen. Das ist eine Tatsache.

Der Brief war nicht unterschrieben, aber sie wußte, von wem er stammen mußte: von dem Mann, der auf dem Friedhof gewesen war, sie aus dem vorbeifahrenden Auto beobachtet hatte und ihrem Vater und ihr vor Jahren das Leben gerettet hatte. Kein anderer konnte sich als ihr »spezieller Beschützer« bezeichnen. Ein Zittern durchlief ihren Körper - nicht vor Angst, sondern weil das Unerklärliche und Geheimnisvolle an ihrem Beschützer sie mit Neugier und Verwunderung erfüllten.

Laura trat rasch ans Fenster ihres Zimmers und schob die dünnen Netzstores zwischen den Vorhängen beiseite, weil sie fest annahm, er werde unten auf der Straße stehen und den Laden beobachten. Aber er war nicht da.

Auch der Mann in Schwarz war nicht da. Ihn hatte sie nicht zu sehen erwartet. Sie hatte sich inzwischen eingeredet, der zweite Unbekannte habe nichts mit ihrem Beschützer zu tun und sei aus irgendeinem anderen Grund auf dem Friedhof gewesen. Er hatte ihren Namen gewußt. Aber vielleicht hatte er ihn zuvor gehört, als Cora sie vom Hügel aus rief. Es gelang ihr, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, weil sie nicht wollte, daß er ein Bestandteil ihres Lebens war, während sie sich andererseits nichts sehnlicher wünschte als einen speziellen Beschützer.

Sie las den Brief nochmals.

Obwohl Laura nicht begriff, wer der blonde Mann war oder weshalb er sich für sie interessierte, fand sie seine Mitteilung tröstlich. Man brauchte nicht alles zu verstehen, solange man es nur glaubte.

5

Nachdem Stefan auf dem Dachboden des Instituts die Sprengladungen angebracht hatte, kam er in der nächsten Nacht mit seinem Koffer zurück und behauptete neuerlich, keinen Schlaf gefunden zu haben. Viktor, der diesen Besuch vorausgesehen hatte, hatte ihm die Hälfte des von seiner Frau gebackenen Kuchens mitgebracht.

Stefan biß zwischendurch immer wieder von dem Kuchen ab, während er die Sprengladungen anbrachte. Der riesige Keller war in zwei Räume unterteilt, in denen sich im Gegensatz zum Dachboden jeden Tag Mitarbeiter des Instituts aufhielten. Deshalb mußten hier unten die Ladungen und ihre Zündleitungen unsichtbar bleiben.

Der erste Raum enthielt das Forschungsarchiv und zwei lange Arbeitstische aus massiver Eiche. Die zwei Meter hohen Aktenschränke standen in Gruppen zusammengefaßt an den Wänden. Er brauchte die Sprengladungen nur oben auf die Schränke zu legen und ganz nach hinten an die Wand zu schieben, so daß selbst der größte Institutsangestellte sie nicht mehr sehen konnte.

Die Zündleitungen konnte er hinter den Schränken verlegen, aber er mußte ein kleines Loch in die Trennwand zwischen den Kellerräumen bohren, um die Leitungen weiterführen zu können. Es gelang ihm, das Loch an einer unauffälligen Stelle zu bohren, wo die Drähte auf beiden Seiten der Trennwand nur wenige Zentimeter weit sichtbar waren.

Der zweite Raum diente als Lagerraum für Büro- und Labormaterial und zur Unterbringung der etwa zwanzig Tiere -mehrere Hamster, einige weiße Ratten, zwei Hunde und ein lebhafter Affe in einem großen Käfig mit drei Schaukelstangen -, die zu frühen Versuchsreihen des Instituts gedient - und sie überlebt - hatten. Obwohl die Tiere nicht mehr gebraucht wurden, blieben sie für den Fall, daß ihr einzigartiges Abenteuer unvorhergesehene medizinische Spätfolgen haben sollte, weiter in Beobachtung.

Stefan brachte starke Sprengladungen in den Hohlräumen hinter den Materialstapeln an und führte alle Zündleitungen zu dem vergitterten Luftschacht weiter, durch den er in der Nacht zuvor das Kabel vom Dachboden herabgelassen hatte. Während er arbeitete, spürte er, daß die Tiere ihn ungewöhnlich aufmerksam zu beobachten schienen, als wüßten sie, daß sie keine 24 Stunden mehr zu leben hatten. Was sie betraf, plagte ihn ein schlechtes Gewissen, obwohl er seltsamerweise keine Gewissensbisse hatte, wenn er an den Tod der Mitarbeiter des Instituts dachte - vielleicht weil die Tiere schuldlos waren, was man von den Männern nicht behaupten konnte.

Kurz vor vier Uhr war Stefan mit der Arbeit im Keller und in seinem Büro im zweiten Stock fertig. Bevor er das Institut verließ, ging er ins Hauptlabor im Erdgeschoß und starrte eine Minute lang das Tor an.

Das Tor.

Die vielen Dutzend Skalen, Instrumente und Anzeigegeräte der Apparaturen des Tors leuchteten gedämpft orange, gelb oder grün, denn seine Stromversorgung wurde nie unterbrochen. Das Ding war zylindrisch, vier Meter lang, zweieinhalb Meter im Durchmesser und bei trüber Beleuchtung kaum richtig zu erkennen; auf seiner Edel stahlverkleidung spiegelten sich schwache Lichtreflexe der Aggregate, die drei Seiten des saalartigen Raums einnahmen.

Obwohl er das Tor schon Dutzende von Malen passiert hatte, fand er es noch immer furchteinflößend - nicht so sehr, weil es einen staunenswerten wissenschaftlichen Durchbruch verkörperte, sondern weil sein Potential für Böses unbegrenzt war. Es war kein Tor zur Hölle, aber in den Händen der falschen Männer konnte es genau das sein. Und es befand sich in den Händen der falschen Männer.

Nachdem Stefan sich bei Viktor für den halben Kuchen bedankt und behauptet hatte, er habe ihn aufgegessen - in Wirklichkeit hatte er den größten Teil an die Tiere verfüttert -, fuhr er in seine Wohnung zurück.

Auch diese Nacht war stürmisch. Der Nordwestwind trieb Regenschauer vor sich her. Wasser schäumte aus den Fallrohren der Dachrinnen, gurgelte in Rinnsteinen, rieselte von Dächern, bildete Pfützen auf den Straßen und ließ verstopfte Abflüsse überquellen, und da die Stadt fast völlig dunkel war, schienen die Tümpel und Wasserläufe eher aus Öl zu bestehen. Auf den Straßen waren nur einige wenige Uniformierte unterwegs, die alle dunkle Gummimäntel trugen, in denen sie wie Gestalten aus einem Gruselroman aussahen.

Stefan fuhr auf dem kürzesten Weg nach Hause, ohne zu versuchen, den bekannten Kontrollstellen auszuweichen. Seine Papiere waren in Ordnung, sein Sonderausweis, der ihn von der Ausgangssperre ausnahm, galt bis Jahresende, und er transportierte keinen illegal beschafften Sprengstoff mehr.

Daheim stellte er seinen großen Wecker und schlief fast augenblicklich ein. Er brauchte diesen Schlaf dringend, denn am Nachmittag standen ihm zwei anstrengende Reisen und mehrere Liquidationen bevor. Wenn er dabei nicht hellwach war, konnte er leicht vom Jäger zum Gejagten werden.

Er träumte von Laura, was er für ein gutes Omen hielt.

Die stete Flamme

1

Von ihrem zwölften bis zu ihrem 17. Lebensjahr trieb Laura Shane haltlos durch ihr Leben, als wäre sie vom Wind über die kalifornischen Wüsten geblasenes Steppengras: in windstillen Augenblik-ken da und dort für kurze Zeit zur Ruhe kommend, um dann vom nächsten Windstoß wieder weitergetrieben zu werden.