»Niemand weiß, daß Ihr hier seid, Herr!«
»Man könnte es aber vermuten! Die Biskayer haben sicher eine Ahnung davon gehabt, daß der Bruder des gehenkten Roten Korsaren in der Stadt war!«
»Ihr könnt recht haben! Glaubt Ihr, daß Morgan uns Hilfe schicken wird?«
»Der Leutnant verläßt seinen Kommandanten nicht in den Stunden der Gefahr. Er ist ein kühner und tapferer Mann.«
»Wenn er den Kurs des Schiffs beschleunigte und einen Kugelregen auf die Stadt eröffnete ...?«
»Das wäre eine Tollheit, die er teuer bezahlen müßte.«
»Oh, wie viele solcher Torheiten haben wir schon begangen und immer oder wenigstens fast immer mit glücklichem Erfolg!«
Der Korsar setzte sich wieder und trank langsam noch ein Glas Wein. Dann ging er von neuem an das Fenster, von dem man das Gäßchen überschauen konnte.
Nach einer Weile gab er seinen Beobachtungsposten auf und kehrte erregt ins Zimmer zurück.
»Bist du des Negers sicher?« fragte er Carmaux.
»Er ist erprobt.«
»Kann er uns nicht verraten?«
»Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.«
»Er ist hier!«
»Was? Habt Ihr ihn gesehen?«
»Ja, er streicht unten in der Gasse umher.«
»Kommandant, er wird uns suchen, er muß heraufkommen!«
»Aber was wird er mit dem Leichnam meines Bruders gemacht haben? Rufe ihn! Doch sei vorsichtig! Wenn man dich bemerkt, sind wir verloren.«
»Laßt mich nur machen, Herr!« entgegnete Carmaux lächelnd. »Zehn Minuten genügen mir, um mich in den Notar von Maracaibo zu verwandeln!«
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Die Lage der Flibustier verschlimmert sich
Kaum waren zehn Minuten verstrichen, als Carmaux das Haus des Advokaten verließ, um sich auf die Suche nach dem Neger zu begeben. In dieser kurzen Zeit hatte sich der brave Flibustier vollkommen unkenntlich gemacht. Mit wenigen Scherenschnitten waren der Bart gestutzt und die langen Haare gekürzt worden. Er hatte ein spanisches Gewand angelegt, das der Notar nur bei besonderen Gelegenheiten trug. Es paßte ihm gut, da beide so ziemlich von der gleichen Statur waren. So konnte der gefürchtete Seeräuber entweder für einen ruhigen Bürger Gibraltars oder gar für den Notar selber gelten. Als vorsichtiger Mann hatte er indessen doch seine Pistolen in die Taschen gesteckt, da er sich allein auf das Gewand nicht verließ.
Wie ein friedlicher Spaziergänger, der etwas frische Luft schnappen wollte, sah er zum Himmel empor, ob die Morgenröte schon da wäre. Das Gäßchen war wie ausgestorben.
»Wenn der Kommandant unsern Gevatter Kohlensack erst vor kurzem gesehen hat, so kann er doch nimmer weit sein«, murmelte er. »Sicher wird er Grund gehabt haben, Maracaibo nicht zu verlassen ...«
»Ob der verdammte van Gould erfahren hat, wer den Streich verübte?« philosophierte er weiter. »Sollte es wirklich Bestimmung sein, daß die drei tapferen Brüder sämtlich in die Hände des Gouverneurs fallen? Aber wir würden uns rächen, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben!«
In diesem Selbstgespräch war er die Gasse hinuntergegangen und wollte eben um die Ecke biegen, als ein Soldat, der bisher unter einem Torbogen stand, ihm unversehens den Weg vertrat und ihm ein drohendes Halt zurief.
»Tod und Teufel!« brummte Carmaux, mit einer Hand in die Tasche fahrend und seine Pistole umklammernd. »Da sind wir ja schon!«
Dann nahm er die Miene eines ehrbaren Bürgers an und sagte laut: »Was wünscht Ihr, mein Herr?«
»Wissen, wer Ihr seid!«
»Wie! Ihr erkennt mich nicht? Ich bin doch der Notar dieses Stadtviertels!«
»Verzeiht, ich bin erst seit kurzem in Maracaibo! Aber darf man wissen, wohin Ihr spaziert?«
»Ein armer Teufel liegt im Sterben. Und Ihr wißt, wenn einer sich vorbereitet, in die andere Welt zu gehen, so muß er an seine Erben denken!«
»Es ist wahr, Herr Notar! Aber seid vorsichtig, daß Ihr nicht den Flibustiern begegnet!«
»Mein Gott!« rief Carmaux aus, sich erschreckt stellend. »Die Piraten sind hier? Wie konnten diese Kanaillen nur wagen, in Maracaibo zu landen? Die Stadt ist ja fast uneinnehmbar und wird von dem tapferen van Gould regiert!«
»Man weiß nicht, wie sie sich ausgeschifft haben; denn man hat weder eins ihrer Schiffe bei den Inseln noch im Corogolf gesehen.
Aber hier sind sie, da ist kein Zweifel! Denn sie haben schon drei oder vier Leute getötet und hatten die Kühnheit, den Leichnam des Roten Korsaren zu rauben, der mit seiner Schiffsmannschaft vor dem Gouverneurspalast hing!«
»Diese Schurken! Und wo sind sie jetzt?«
»Man glaubt, daß sie aufs Land geflohen sind. Man hat Truppen an verschiedenen Orten aufgestellt und hofft so, sie einzufangen und auch an den Galgen zu bringen.«
»Vielleicht halten sie sich noch in der Stadt verborgen?«
»Das ist nicht gut möglich. Man hat ja gesehen, daß sie ins freie Gelände flohen.«
Carmaux wußte genug. Er wollte den Neger suchen und durfte darum keine Zeit verlieren.
»Ich werde mich vorsehen«, sagte er. »Jetzt muß ich zu meinem sterbenden Klienten, sonst komme ich zu spät.«
»Viel Glück, Herr Advokat!«
Der schlaue Flibustier zog den Hut über die Augen und entfernte sich schleunigst.
»Man glaubt uns also außerhalb der Stadt«, murmelte er. »Ausgezeichnet! Da können wir ja ganz ruhig im Hause unseres guten Notars bleiben, bis die Truppen wieder abgezogen sind. Der Kapitän hatte wirklich eine herrliche Idee! Selbst der Olonese, der sich rühmt, der listigste Flibustier der Tortuga zu sein, konnte keine bessere haben!«
Er war schon um die Ecke gebogen, in eine breitere, von schönen Häusern mit eleganten Veranden flankierte Straße, als er einen schwarzen Schatten von gigantischer Größe bei einer Palme bemerkte, die neben einem hübschen, kleinen Palaste stand.
»Wenn ich mich nicht irre, ist das ja unser Mokko! Diesmal haben wir ja merkwürdiges Glück! Man weiß schon, daß der Teufel uns beschützt. Wenigstens sagen so die Spanier.«
Der Mann, der da halb verborgen hinter dem Baume stand, sah den angeblichen Advokaten kommen. Er flüchtete unter den Torweg des kleinen Palastes. Als er auch dort sich nicht sicher fühlte, lief er schnell um die Ecke.
Carmaux hatte sich nun überzeugt, daß es wirklich der Neger war. Er sprang ihm nach und rief halblaut: »He, Gevatter!«
Der Neger blieb stehen. Dann kehrte er langsam zurück. Als er Carmaux in der sonderbaren Verkleidung erkannte, rief er freudig: »Du bist es, weißer Gevatter!«
»Hast gute Augen!« lachte der Seemann.
»Wo ist der Kapitän?«
»Sei unbesorgt! Er ist in Sicherheit. Aber warum bist du zurückgekommen? Warum hast du nicht den Befehl des Kommandanten ausgeführt?«
»Ich konnte es nicht. Der Wald war von Truppen besetzt.«
»Da werden sie unsere Barke bemerkt haben!«
»Ich fürchte es auch.«
»Und wo hast du die Leiche des Roten Korsaren gelassen?«
»In meiner Hütte unter einem Haufen frischer Blätter.«
»Werden sie die Spanier nicht entdecken?«
»Ich habe vorsichtigerweise alle meine Schlangen freigelassen. Wenn die Soldaten kommen, werden sie ausreißen vor den Reptilien.«
»Du bist wirklich schlau! Und meinst du, daß augenblicklich an Flucht nicht zu denken sei?«
»Unmöglich!«
»Die Lage ist ernst. Wenn Morgan, der Vizekommandant der ›Fólgore‹, uns nicht zurückkommen sieht, kann er eine Unvorsichtigkeit begehen. Na, wir wollen sehen, wie dies Abenteuer ausläuft. Mokko, bist du in Maracaibo bekannt?«
»Man kennt mich überall, da ich oft in die Stadt komme, um heilsame Kräuter gegen Wunden zu verkaufen.«