Schon trennte sie nur eine Meile von dem Schiffe, das ihnen entgegenkam, als ein seltsamer Schrei, einem Klageton ähnlich, der in Schluchzen endete, ihr Ohr traf. Sie hielten, furchtsam um sich schauend, mit dem Rudern inne.
»Hast du das gehört?« fragte Stiller, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirne.
»Ja«, antwortete Carmaux mit unsicherer Stimme. »Könnte es nicht ein Fisch gewesen sein?«
»Ich habe nie gehört, daß Fische solche Töne ausstoßen können.«
»Wofür hältst du es denn?«
»Ich weiß es nicht, aber es hat mir Grauen eingeflößt.«
»War es vielleicht der Bruder des Toten ...?«
»Schweig, Kamerad!«
Alle beide blickten zum Schwarzen Korsaren hinüber, aber dieser schien nichts gehört zu haben. Er hielt den Kopf noch immer gestützt, und die Augen waren auf den Leichnam gerichtet.
»Gott steh uns bei!« murmelte Carmaux und ergriff wieder das Ruder. Dann wandte er sich zum Neger um: »Hast du auch den Schrei gehört, Gevatter?«
»Ja!« antwortete dieser.
»Was kann das gewesen sein?«
»Vielleicht eine Seekuh!«
»Das könnte sein, aber ...«
Im selben Augenblick war hinter dem Heck der Schaluppe, inmitten schimmernden Schaumes, ein dunkles Etwas aufgetaucht, das sogleich wieder in die Tiefe zurückschoß.
»War das nicht ein Kopf?« fragt Stiller atemlos. Der Hals war ihm wie zugeschnürt.
»Ja«, antwortete Carmaux zähneklappernd. »Ein Totenkopf! Das war der Grüne Korsar, der uns verfolgt, um den Roten Korsaren entgegenzunehmen!«
»Mich schaudert!« sagte Stiller.
»Und du, schwarzer Gevatter, hast du nichts gesehen?«
»Ja, den Kopf einer Seekuh!«
»Der Teufel hole dich mitsamt deinen Seekühen!« brummte Carmaux. »Es war ein Totenkopf ohne Augen.«
In diesem Moment ertönte eine Stimme vom großen Schiff her über das Meer: »Oihe! Wer da?«
»Der Schwarze Korsar!« schrie Carmaux.
Die »Fólgore« näherte sich rasch wie eine Seeschwalbe, indem sie die blitzenden Fluten teilte. In ihrer schwarzen Farbe ähnelte sie dem sagenhaften »Fliegenden Holländer« oder dem schwimmenden »Sargschiff«.
Längs der Brüstung stand die Mannschaft in Reih und Glied. Alle waren bewaffnet.
Am Heck hinter den Verfolgungskanonen sah man die Schützen, mit der angezündeten Lunte in der Hand. Und auf der Spitze des Girksegels wehte das große, schwarze Banner des Korsaren mit kreuzweise gestellten, goldenen Buchstaben in bizarrer Verschnörkelung.
Die Schaluppe legte an Backbord an, während das Schiff Anker warf, und die Seeleute warfen das Tau vom Bord.
»Herunter das Takelwerk!« hörte man eine laute Stimme.
Das Boot wurde, auf einen Pfiff des Obermaats, an Bord gezogen mitsamt den Personen darauf.
Als der Kiel gegen das Schiffsdeck stieß, schien der Schwarze Korsar aus seiner Schwermut zu erwachen. Er schaute sich um, beugte sich dann über den Leichnam, nahm ihn in seine Arme und legte ihn zu Füßen des Hauptmastes nieder.
Die Mannschaft grüßte stumm, unbedeckten Hauptes, die Leiche.
Morgan, der Vizekapitän, war von der Kommandobrücke herabgestiegen und erwartete schweigend die Befehle seines Vorgesetzten.
»Tut, wie es Brauch ist!« sagte der Korsar mit gesenktem Kopf.
Dann schritt er langsam über das Oberdeck, betrat die Kommandobrücke und blieb dort unbeweglich, wie eine Statue, mit auf der Brust gekreuzten Armen.
Es begann gegen Osten zu dämmern. Dort, wo der Himmel sich mit dem Meere zu vereinigen schien, stieg ein blasses Licht auf, welches das Seewasser bläulich färbte. Es war nicht rosa , wie gewöhnlich, sondern trübe, fast grau, eisenähnlich.
Inzwischen waren das große Banner des Korsaren zum Zeichen der Trauer auf Halbmast heruntergelassen und die Rahen der Flaggenstöcke in Kreuzform gesetzt worden.
Die ganze Besatzung befand sich auf Deck. All diese Männer mit den von Sonne und Seewind gebräunten Gesichtern standen in Trauer ernst vor der Hülle des Roten Korsaren, die der Obermaat, zusammen mit zwei Kanonenkugeln, in eine große Hängematte gelegt hatte.
Am Horizont wurde es heller, aber die Meereswellen leuchteten noch immer um das Schiff und schlugen dumpf gegen die Flanken und um den hohen Bug. Bald klang es wie Seufzer, bald wie Klagen.
Plötzlich hallte Glockenklang vom Heck her. Die ganze Mannschaft war in die Knie gesunken, als der Maat, unterstützt von drei andern Seeleuten, die Leiche emporhob und auf die Brüstung des Backbords legte.
Feierliches Schweigen herrschte an Bord des unbeweglich auf dem leuchtenden Wasser liegenden Schiffs. Sogar das Meer schwieg jetzt und murmelte nicht mehr.
Aller Augen waren auf den Schwarzen Korsaren gerichtet, dessen dunkle Gestalt sich vom grauen Horizont seltsam abhob. Es schien, als ob sie riesenhafte Formen angenommen hätte. Er stand aufrecht auf der Kommandobrücke mit der im Morgenwinde wehenden schwarzen Feder, den einen Arm auf die Leiche ausgestreckt.
Da unterbrach seine kräftige Stimme das Schweigen.
»Hört mich, Seeleute! Ich schwöre bei Gott, bei diesen Meereswellen, die unsere Gefährten sind, und bei meiner Seele, daß ich keine Ruhe mehr finden soll, bis ich meine beiden von van Gould hingemordeten Brüder gerächt habe! Mögen die Blitze mein Schiff anzünden, möge meine Seele bis in Ewigkeit verdammt sein, wenn ich nicht den Gouverneur töten und seine ganze Familie umbringen werde, wie er die Meinigen umgebracht hat! ... Habt ihr mich gehört?«
»Ja!« antworteten die Flibustier, während ein Schauer durch ihre Reihen ging und Grausen sich auf ihren Mienen malte.
Auf einen Wink des Kommandanten versenkte nun der Obermaat die Hängematte mit dem toten Körper des Roten Korsaren ins Meer. Hochauf spritzten die Wellen mit flammender Gischt.
Alle Mann hatten sich über die Brüstung gebeugt. In dem phosophoreszierenden Wasser sah man klar den Leichnam in die Tiefe sinken und verschwinden.
In diesem Augenblick wurde wieder jener geheimnisvolle Schrei hörbar, der die beiden Bootsleute vor kurzem so erschreckt hatte. Sie standen unter der Kommandobrücke und sahen sich erblassend an.
»Das ist der Ruf des Grünen Korsaren, der den Bruder begrüßt«, murmelte Garmaux.
»Die beiden werden sich auf dem Meeresgrunde getroffen haben«, bestätigte Stiller mit erstickter Stimme.
Ein kurzer Pfiff unterbrach ihr Gespräch.
»Braßt an Backbord!« schrie der Maat. »Die Stange anluven!«
Die »Fólgore« hatte gedreht und lief jetzt um die kleinen Inseln des Sees herum, worauf sie sich dem großen Golf zuwandte, dessen Wasser unter den ersten Sonnenstrahlen erglühten. Das Meeresleuchten war plötzlich verglommen.
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An Bord der »Fólgore«
Als die »Fólgore« des Schwarzen Korsaren die Insel verlassen und das lange, von den letzten Ausläufern der Sierra di Santa Marta gebildete Vorgebirge passiert hatte, war sie in das Karibische Meer eingelaufen. Sie schiffte so gen Norden, also den großen Antillen zu. Das Meer war ruhig. Kaum merkte man die Morgenbrise, die von Südosten wehte und hier und dort kurze Wellen warf, welche rauschend gegen die Flanken des Segelschiffs schlugen.
Viele von den Küsten kommende Wasservögel kreisten über dem Meere. Scharen von raubgierigen Raben, so groß wie Hühner, flatterten in Ufernähe und schossen auf die Beute zu, die sie stückweise zerrissen. Dicht über den Wellen flogen Vögel mit gespaltetem Schwanz, auf dem Rücken schwarz und weiß gefiedert. Mit ihren eigenartigen Schnäbeln waren sie zu langem Fasten verdammt, wenn ihnen die Fische nicht selbst in den Mund flogen. Auch die im mexikanischen Golf häufigen Tropinvögel sah man in langen Reihen mit ihren langen Schwanzfedern über die Wogen streifen. Grauenerregend waren ihre schwarzen Flügel. Sie spähten nach den fliegenden Fischen aus, die aus dem Wasser emporschossen und die Luft streckenweise durchfurchten, um dann wieder hinabzutauchen und sofort ihr Spiel von neuem zu beginnen. Nur die Schiffe fehlten. Die Wächter an Deck schauten sich die Augen aus, aber kein Segler war am Horizont sichtbar. Die Furcht, den kühnen Tortugakorsaren zu begegnen, hielt die einzelnen spanischen Fahrzeuge von der Einfahrt in die Häfen von Caracas, Yucatan, Venezuela und den großen Antillen ab, ehe sie nicht zusammen ein Geschwader bilden konnten. Nur gut bewaffnete und zahlreich bemannte Schiffe wagten es noch, das Karibische Meer und den Golf von Mexiko zu durchqueren. Man hatte die Unerschrockenheit jener Seefahrer, die das Banner der Tortuga führten, schon reichlich kennengelernt.