»War es nicht hier?« fragte er seine Gefährten. »Ich glaube, mich nicht zu irren.«
In diesem Augenblick hörte man aus der Mitte des Gehölzes süße, melodische Flötentöne.
Der Korsar wandte sich um. »Was ist das?« fragte er.
»Mokkos Flöte!« antwortete Carmaux lächelnd. »Es ist der Neger, der uns zur Flucht verhalf. Seine Hütte befindet sich inmitten dieser sonderbaren Pflanzen. Er wird jetzt seine Schlangen meistern.«
»Ein Zauberer?«
»Ja, Kapitän!«
»Diese Flöte kann uns aber verraten!«
»Wir können sie ihm ja wegnehmen und die Schlangen in den Wald jagen!«
Carmaux, der schon in das Gebüsch eingedrungen war, wich mit einem Schreckensruf wieder zurück.
Vor einer armseligen Hütte aus verschlungenen Baumzweigen stand ein Neger von herkulischen Formen. Er war hochgewachsen, mit kräftigen Schultern und breiter Brust. Seinen Muskeln sah man die Riesenkraft an. Obgleich die Nase platt, die Lippen dick waren und die Backenknochen vorstanden, konnte das Gesicht nicht häßlich genannt werden. Im Gegenteil, es hatte etwas Gutes, Freimütiges, Kindliches, nicht eine Spur von dem wilden Ausdruck, den viele andere afrikanische Rassen zeigen.
Seine Behausung lag, wie die meisten Indianerhütten, halb versteckt hinter einem mächtigen Baume, umgeben von Kürbispflanzen.
Mokko stand an einem abgehauenen Baumstamm und blies eine Flöte aus leichtem Bambusrohr, der er seltsam weiche, langgezogene Töne entlockte. Vor ihm krochen ganz sanft und ruhig etwa zehn der gefährlichsten Reptilien Südamerikas.
Es waren einige Jararacaca, die selbst die Indianer wegen ihres Giftes fürchten, kleine tabakfarbene Schlangen mit abgeplattetem, dreieckigem Kopf und feinem Hals. Auch mehrere Klapperschlangen, einige ganz schwarze Nattern, die fast blitzartig ihr Gift ausspritzen, und etliche Reptilien mit weißen, kreuzförmigen Streifen auf dem Kopfe, deren Biß eine Lähmung des betreffenden Gliedes bewirken kann.
Als der Neger Carmaux' Aufschrei hörte, richtete er seine großen, porzellanähnlichen Augen auf die Flibustier. Dann nahm er seine Flöte aus dem Munde und sagte erstaunt: »Ihr seid noch hier? Ich glaubte euch schon in Sicherheit.«
»Ja doch, ja... aber der Teufel hole mich, wenn ich nur einen Schritt in dein gefährliches Revier wage!«
»Meine Tiere tun den Freunden nichts Böses an«, antwortete Mokko lachend. »Warte einen Augenblick, ich werde sie schlafen legen!«
Er nahm einen aus Blättern geflochtenen Korb, legte die Schlangen hinein, ohne daß diese sich sträubten, und schloß ihn darauf sorglich mit einem großen Stein.
»Jetzt kannst du ohne Furcht in meine Hütte treten, weißer Bruder! Bist du allein?«
»Nein, ich komme mit meinem Schiffskapitän, dem Bruder des Roten Korsaren!«
»Mit dem Schwarzen Korsaren? Da kann Maracaibo sich freuen!«
»Still, Mokko! Überlaß uns deine Hütte, und du wirst es nicht bereuen!«
Jetzt war der Korsar mit Stiller und dem Gefangenen hinzugetreten. Er grüßte den Neger mit einem Wink der Hand und wandte sich an Carmaux: »Ist das der Mann, der euch zur Flucht verholfen hat?«
»Ja, Kapitän!«
»Haßt er die Spanier?«
»Wie wir!«
»Und kennt er Maracaibo?«
»Wie wir Tortuga!«
Der Korsar betrachtete die mächtige Muskulatur des Afrikaners und sagte: »Er wird uns nützlich sein!«
Sein Blick schweifte in der Hütte umher. Als er in einer Ecke einen aus Baumzweigen roh hergestellten Stuhl fand, setzte er sich, um von der beschwerlichen Wanderung auszuruhen.
Indessen beeilte sich der Neger, den Fremden Gastfreundschaft zu erweisen. Er brachte Backwerk, das aus dem Mehl der Maniocaknollen hergestellt war, die im zerriebenen und zerdrückten Zustand ihre giftige Eigenschaft verlieren.
Außer aromatischen Goldbananen holte er Früchte des Flaschenbaums herbei, die wie Tannenzapfen aussahen und unter ihren Schuppen einen ausgezeichneten, weißlichen Saft enthielten. In einem ausgehöhlten Kürbis setzte er Pulque vor, ein der Agave entnommenes gegorenes Getränk.
Die drei Flibustier, die während der ganzen Nacht keinen Bissen zu sich genommen hatten, ließen sich das Frühstück schmecken. Sie gaben auch dem Gefangenen davon ab. Dann streckten sie sich sorglos auf einem Haufen frischer Blätter aus, die der Neger in die Hütte geschleppt hatte. Sie konnten ruhen, denn der Neger hielt indessen Wache.
Während des ganzen Tags rührte sich keiner von ihnen. Kaum aber war die Dunkelheit wieder angebrochen, da sprang der Korsar auf. Er blieb vor dem gefangenen Spanier stehen.
»Ich habe dir versprochen, dich leben zu lassen. Dafür mußt du mir sagen, ob ich unbeobachtet in den Palast des Gouverneurs gelangen kann!«
»Ihr wollt ihn ermorden?«
»Ermorden«, entgegnete der Flibustier zornig. »Ich töte nie durch Verrat.«
»Er ist alt, der Gouverneur, während ihr jung seid. Ihr würdet auch nicht in sein Zimmer gelangen, denn eine Menge Soldaten bewachen ihn und würden euch sofort verhaften.«
»Ich weiß, daß er mutig ist.«
»Wie ein Löwe!«
»Gut, ich werde ihn schon finden!«
Dann drehte er sich zu den beiden Bootsleuten um, die sich ebenfalls erhoben hatten, und sagte zu Stiller: »Du wirst hierbleiben und diesen Mann bewachen!«
»Würde nicht der Neger genügen, Kapitän?«
»Nein! Er ist stark wie Herkules und muß mir helfen! Komm, Carmaux, laß uns erst eine Flasche spanischen Weins in Maracaibo leeren!«
»Zu dieser Stunde, Kapitän?«
»Hast du Angst?«
»Mit Euch würde ich selbst in die Hölle fahren und Meister Beelzebub an die Nase fassen! Nur fürchte ich, daß wir entdeckt werden.«
Ein Lächeln umspielte die Lippen des Korsaren. »Wir werden sehen. Komm nur!« sagte er.
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Ein Zweikampf zwischen vier Wänden
Obgleich Maracaibo nur zehntausend Einwohner zählte, war es in jener Zeit doch eine der wichtigsten Städte, die Spanien an der mexikanischen Goldküste besaß.
Durch die herrliche Lage am südlichen Ende der Bucht und nahe dem gleichnamigen See, der es mit dem Festland verband, hatte es schnell große Bedeutung erlangt, so daß es ein Stapelplatz aller Erzeugnisse Venezuelas wurde.
Die Spanier hatten es mit einer mächtigen Festung versehen und diese mit einer großen Zahl von Kanonen ausgestattet. Auch auf den beiden Inseln, die es von der Golfseite schützten, hatten sie starke Garnisonen angelegt, da man immer einen plötzlichen Einfall der gefürchteten Flibustier der Tortuga befürchtete.
Schon die ersten Abenteurer, die ihren Fuß auf jenes Ufer setzten, hatten dort schöne Häuser errichtet. Viele Paläste waren von spanischen Baumeistern erbaut worden, die in der Neuen Welt ihr Glück suchten. In den zahlreichen repräsentativen Gebäuden versammelten sich die reichen Bergwerksbesitzer, und hier tanzte man bei öffentlichen Festen den Fandango und Bolero.
Als die Flibustier und der Neger ohne Hindernisse in Maracaibo ankamen, waren die Straßen noch belebt und die Tavernen, wo man den spanischen Wein ausschenkte, noch voll, denn die Spanier verzichteten auch in ihren Kolonien nicht auf ihren heimatlichen Malaga und Jerez Sherry.
Der Schwarze Korsar hatte den Schritt verlangsamt. Den Filzhut tief über die Augen gezogen und fest in seinen Mantel gehüllt, obgleich der Abend noch warm war, beobachtete er aufmerksam die Straßen und Häuser, als ob er sie seinem Gedächtnis einprägen wollte.
Auf der Plaza de Granada, die den Mittelpunkt der Stadt bildete, blieb er, sich an eine Mauer lehnend, stehen, als ob ihn ein Schwächeanfall ergriffen hätte. Der Platz bot ein schreckliches Schauspieclass="underline" Fünfzehn Galgen waren im Halbkreis vor einem die spanische Flagge tragenden Palaste errichtet. Die Leichen, die daran hingen, waren alle barfuß, nur mit Fetzen bekleidet, mit Ausnahme einer einzigen, die hohe Wasserstiefel und einen feuerroten Anzug trug. Über die Galgen zogen kleine schwarzgefiederte Geier, die nur die Fäulnis jener Unglücklichen abzuwarten schienen, um sich auf die Leichname zu stürzen.